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Wir in der Hand der Anderen

Wie erklären wir, dass wir immer von Anderen beeinflusst werden, die wir nicht kennen? Judith Butler, wirkmächtiger Theoriestar der Genderpolitik, stellt im Rahmen der Frankfurter Adorno-Vorlesungen ihre „Kritik der ethischen Gewalt“ vor

Judith Butler wirkt wie ein verletzliches Wesen, das ganz private Fragen stellt

von RENÉ AGUIGAH

Es noch gar nicht lange her, dass Frauke, Angela, Vivian und Hans in ihren geliehenen Ford Escort stiegen, vier Männlein und Weiblein verschiedener sexueller Orientierung auf dem Weg von Heidelberg nach München. Aus den Lautsprechern im Auto jaulten die damals fortschrittlichsten Frauengitarren der Welt, nämlich die von Sleater-Kinney, und doch war das Fahrtziel kein Popkonzert; zumindest nicht ganz: „Eine Stunde später saßen alle […] in einem Hörsaal der Münchener Universität. Dieser hatte sich im Nu so sehr gefüllt, dass die ganze Versammlung nach nebenan, in einen größeren Raum, umziehen durfte. Für einen kurzen Moment schämte sich Hans seines Geschlechts, von welchem, proportional gesehen, auffallend wenige Exemplare zugegen waren. Dann trat Judith Butler ein, ungemein sympathisch, auf anziehende Weise vergeistigt, fand Hans. Vivian schlug das Herz bis zum Hals, als die Amerikanerin nun […], nur drei, vier Meter von Hans und Vivian, ans Mikrofon trat.“

Das war am 12. Juni 1997; so erzählt es Thomas Meinecke in seinem Roman „Tomboy“, einer Art Milieustudie über die feministische Subkultur in den mittleren Neunzigerjahren. Es war eine Zeit verschärfter Unübersichtlichkeit. Zitat und Collage avancierten zu elementaren Kulturtechniken, eine neue Frauenbewegung kassierte die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, zwischen sex und gender, und setzte auf die subversive Kraft von Parodie und Travestie. Das Programm dazu stand bei Judith Butler. „[E]s geht um den Versuch, zur Geschlechter-Verwirrung anzustiften“, hieß es in ihrem 1990 erschienenen „Gender Trouble“. Wenige Jahre später hatte das Buch ungezählte Magisterarbeiten inspiriert, verfügten Drag Queens über einen theoretischen Überbau, erschien ein Fanzine namens Judy!, bastelte ein einschlägiges Internetangebot ein Butler-Püppchen aus Lego. Und als es Thomas Meineckes Hans gelang, den „Theoriestar“ nach seinem Vortrag zu befragen, kreischte Frauke: „Wahnsinn … du hast tatsächlich mit ihr gesprochen, dafür schenke ich dir meine einzige Handtasche.“

Das alles ist nicht lange her, und doch ist es heute anders. Die letzte Woche verbrachte die in Berkeley lehrende Judith Butler in Frankfurt am Main und stellte in einer mehrtägigen Vorlesungsreihe und einem Seminar ihre jüngste Arbeit vor, eine „Kritik der ethischen Gewalt“ (erscheint im Frühjahr bei Suhrkamp). In Frankfurt zählte weniger Butlers exorbitante Wirkung außerhalb der akademischen Mauern, sondern eher ihre philosophische Studienzeit bei Hans-Georg Gadamer. Im Vortragspublikum wird sich keiner der Herren, wie seinerzeit Hans, seines Geschlechtes geschämt haben, denn es herrschte in etwa Gleichstand zwischen Männlein und Weiblein. Sicher gab es den einen und die andere, deren Make-up oder Haartracht auf Erfahrung in angewandter Genderpolitik schließen ließen, aber insgesamt waren dieselben sozialen Regeln in Kraft wie auf jeder vergleichbaren Veranstaltung: Während der je halbstündigen Fragerunden nach einer Vorlesung wagten sich, von zwei Ausnahmen abgesehen, nur Männer ans Publikumsmikrofon.

Und schließlich: Der Hörsaal war gut gefüllt, aber er platzte nicht aus allen Nähten, wie damals in München oder noch vor einem Jahr in Frankfurt. Wahrscheinlich fehlt der Ethik der Sexappeal des Differenzfeminismus; oder vornehmer, weil mit Adorno gesagt: Es steht zu vermuten, dass eine moralphilosophische Vorlesung „für junge Menschen nicht gerade primär das Anziehendste sein sollte“.

Judith Butler ist die erste Autorin, die Axel Honneth, der geschäftsführende Direktor des Instituts für Sozialforschung, zu den von nun an jährlich stattfindenden „Adorno-Vorlesungen“ eingeladen hat. Dass der wohlklingende Name des Veranstaltungspatrons dem Institut einen Vorteil im Kampf um „kulturelles und ökonomisches Kapital“ verschaffen könnte, hofft Honneth ausdrücklich. Dass die Prominenz der Referentin das Ihre dazu beitragen könnte, muss er nicht hinzufügen; auch in Frankfurt gehorcht die Wissenschaft den Gesetzen der Kulturindustrie. Doch das heißt nicht, dass es keine inhaltliche Gründe für die Zusammenarbeit zwischen Berkeley und Frankfurt gäbe. Butler wie Honneth arbeiten seit geraumer Zeit auf unterschiedliche Weise daran, Hegels Begriff der Anerkennung eine gesellschaftskritische Wendung zu geben. Und die Kommentare, die Butler Adorno widmete, waren mehr als nur eine förmliche Verbeugung vor dem Genius Loci.

Die Vorlesung geht von einem ethischen Grundgedanken Adornos aus: Moralische Fragen entstehen erst dann, wenn allgemeinverbindliche Haltungen und Normen, wenn ein „kollektives Ethos“ seine Gültigkeit einbüßt. Nach seinem Zusammenbruch aber kann ein solches Ethos seine Ansprüche nur noch mit Gewalt durchsetzen. Das gilt insbesondere für Universalitätsansprüche – nicht unter allen Umständen, aber doch, wenn den Einzelnen die „lebendige Aneignung“ einer universalen Regel versagt bleibt. Ginge es also darum, das Individuum vor den Zumutungen der Allgemeinheit zu bewahren? Nicht ganz. Denn kein Ich bildet sich ohne gesellschaftliche Bedingungen aus, die ihm vorausgehen, Bedingungen und Normen, die sich wiederum gewalttätig auferlegen. Wenn also ein Ich Rechenschaft von sich geben will, so folgert Butler, „eine Rechenschaft oder eine Erklärung seiner selbst, die seine eigenen Entstehungsbedingungen mit angeben muss, dann muss es notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden“.

Aus dieser These ergibt sich der Fluchtpunkt ihres Vortrags. Er zielt auf eine Ethik, die darum weiß, dass das Subjekt elementare Dinge von sich selbst eben nicht weiß. Kant hat die Frage „Was soll ich tun?“ als diejenige der Moralphilosophie etabliert, und kantische Theorien lassen sich bis in die Gegenwart mit ihrer Hilfe identifizieren. Butler fragt eher nach den Voraussetzungen sowohl des Ich als auch des Tuns – allerdings ohne die Relevanz dieser beiden zu leugnen, im Gegenteil: „Wenn das Subjekt sich selbst undurchsichtig ist, kann es noch lange nicht tun, was es will, oder seine verbindlichen Beziehungen zu anderen ignorieren.“

Mit Michel Foucault betont Butler die Bedeutung epistemischer Grenzen für die Möglichkeit, als Subjekt anerkannt zu werden. Mit Emmanuel Levinas und Adriana Cavarero etabliert sie die Frage „Wer bist Du?“ als die eigentlich „ethische Haltung“; denn zum einen veranlassen erst die Anderen das Subjekt, von sich Rechenschaft zu geben, und zum anderen lässt sich Anerkennung in diese Frage übersetzen, ohne den Anderen auf seine kognitiv erfassbaren Eigenschaften zu reduzieren (Geschlecht, Nasenform, Kontostand). Schließlich bringt sie Adorno und Foucault in einer Weise zusammen, als hätte es in Frankfurt nie einen Streit zwischen „Modernen“ und „Postmodernen“ gegeben. Für beide besteht nämlich ein innerer Zusammenhang zwischen der prekären Aufgabe, die „Wahrheit über sich selbst“ zu sagen (Foucault), und der Frage nach der politischen „Einrichtung der Welt“ (Adorno).

So lässt Butler AutorInnen ihres Vertrauens auf- und abtreten, sie bricht hier eine These heraus, dann dort, sie schraubt aus den Versatzstücken ihren eigenen Apparat zusammen. Eine Frage aus dem Publikum, die daran zweifelt, ob denn der „Metaphysiker“ Levinas und der „Postmetaphysiker“ Foucault kompatibel seien, perlt ab, und zwar zu Recht: Butler benutzt Texte, ohne sie zu versöhnen, sie praktiziert Theoriebildung im Zeitalter ihres technischen Designs. Gelegentliche Unebenheiten sind dabei nicht ausgeschlossen. Es kommt vor, dass die Analysen länglich, fast redundant geraten. Und umgekehrt werden einzelne Kommentare den Nuancen der besprochenen Autoren nicht gerecht. Die Behauptung beispielsweise, der späte Foucault habe es versäumt, die Frage nach dem Anderen zu stellen, dient zwar der Profilierung des eigenen Unternehmens – ließe sich aber ohne viel Mühe widerlegen.

Gelegentlich – und solche Passagen erhalten umso mehr Gewicht – entfernt sich die Referentin von ihren theoretischen Quellen. Gewalt, so definiert sie einmal, ist „eine physische Verletzbarkeit, der wir nicht entrinnen können“; und diese Verletzbarkeit zeigt, „inwieweit wir alle nicht genau umgrenzt, nicht genau abgetrennt sind, sondern einander körperlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, einer in der Hand des anderen“. Verletzbarkeit: Dieser Begriff könnte viele von Butlers Einlassungen zur Genderpolitik in ein weiteres ethisches Feld einordnen. Er könnte in einen produktiven Austausch mit dem Konzept des „bloßen Lebens“ gebracht werden, das der Italiener Giorgio Agamben entwickelt hat. Er könnte auch, so deutet es Butler im Hörsaal an, in der US-amerikanischen Sicherheitspolitik nach dem 11. September zu einem anderen, etwa auf Vergebung zielenden Umgang mit erlittenen Wunden anregen.

Einige Stunden zuvor, beim Interview im Hotel, kleidet sie ihre Gedanken über Verletzbarkeit in eine Serie von Fragesätzen: „Wie kommt es, dass wir als Erwachsene darauf reagieren, dass wir gegen unseren Willen beeinflusst, verletzt, plötzlich angegriffen werden, dass wir nicht die Kontrolle darüber haben, wie uns die Leute die ganze Zeit über behandeln? Wie erklären wir, dass wir alle immer von Anderen beeinflusst werden, die wir nicht kennen, die wir uns nicht einmal aussuchen?“ Und für einen kurzen Augenblick berühren sich Moralphilosophie und Intimsphäre. Der Star, der sich den Tag über den Mikrofonen, Kameras und Fans aussetzt, spricht von sich selbst. Auf einmal wirkt Judith Butler, aber das mag Einbildung sein, wie ein verletzliches Wesen, das ganz private Fragen stellt.

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