: Im Namen des Gottes
Im Iran missachten die konservativen Herrscher die wachsende Entfremdung von der eigenen Bevölkerung – die Grenzen rationalen Machtkalküls haben sie überschritten
Im Gottesstaat Iran gibt es Dinge, die gibt’s gar nicht. Anfang Oktober wurde ein Mann dreimal am Galgen erhängt, obwohl er schon beim ersten Mal tot war. Die Begründung: Er war dreimal zum Tode verurteilt. Noch ein Beispiel: Drei halbstaatliche Meinungsforschungsinstitute erhielten von der Regierung und dem Parlament, die von den Reformern geführt werden, den Auftrag, eine Umfrage über die iranisch-amerikanischen Beziehungen durchzuführen. Alle drei Institute kamen fast zum selben Ergebnis. Demnach befürworteten rund 75 Prozent der Befragten das Ende der Feindschaft und die Wiederaufnahme der Beziehungen zu den USA, nur 17 Prozent waren dagegen. Für die Konservativen war dieses Ergebnis wie eine Ohrfeige. Denn wenn das Volk, das einst zum Märtyrertod bereit war, es vorzieht, mit dem „Satan“ Freundschaft zu schließen, statt den „Stellvertretern Gottes“ Gefolgschaft zu leisten, dann kann es um den Staat der Ajatollahs nicht gut bestellt sein. Die Gottesmänner müssen endlich gespürt haben, wie weit sie sich von ihrem Volk entfernt haben. Aber wie immer reagierten sie statt mit Einsicht mit Gewalt. Die von Konservativen beherrschte Justiz ließ alle drei Institute schließen und die Institutsleiter und einige Mitarbeiter in Haft nehmen. Ihnen wird Spionagetätigkeit, Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten und Volksverhetzung vorgeworfen. Auf diese Vorwürfe steht die Todesstrafe.
Die Reaktionen der Islamisten werden immer irrationaler. Darüber kann auch das Einlenken des Revolutionsführers Chamenei nach den massiven Protesten der letzten Tage, die landesweit wegen des Todesurteils gegen Professor Aghadschari stattfanden, nicht hinwegtäuschen. Aghadschari hatte sich in einem Vortrag mit dem traditionellen Islam und der konservativen Geistlichkeit kritisch auseinander gesetzt.
Seit Monaten nehmen die Zahl willkürlicher Urteile, Hinrichtungen, Steinigungen und Gefängnisstrafen zu. Sogar Parlamentsabgeordnete werden wegen ihrer kritischen Äußerungen gerichtlich verfolgt. All dies deutet darauf hin, dass die Konservativen die Grenzen des rationalen Machtkalküls längst überschritten haben. Werden sie bald Amok laufen und zum großen Rundumschlag ausholen? Ist das Experiment, die Islamische Republik zu reformieren, gescheitert? Muss Chatami bald das Handtuch werfen?
Es stand von vornherein fest, dass der in der Islamischen Republik von Anbeginn angelegte Widerspruch zwischen einem islamischen Gottesstaat, der seine Befehle von Gott empfängt, und einer Republik, die dem Willen des Volkes unterliegt, unlösbar war.
Chatamis Mission bestand, objektiv betrachtet, darin, diesen Widerspruch zur Reife zu bringen, nicht aber ihn aufzuheben. Denn er selbst war und ist die Verkörperung des Widerspruchs. Er will einerseits den Gottesstaat bewahren und andererseits eine zivile, pluralistische Gesellschaft gründen. Er kritisiert zwar das Vorgehen der Islamisten, lässt jedoch die Wurzeln des Übels, das System des „Velajat-i-faghieh“ (der absoluten Herrschaft der Geistlichkeit) unangetastet. Seit seiner Amtsübernahme im Mai 1997 ist Tag für Tag zu beobachten, wie die Diskrepanz zwischen dem, was die überwiegende Mehrheit des Volkes will, und dem, was die konservativen Machthaber praktizieren, an der Substanz des Gottesstaates nagt. In der Außenpolitik, Kulturpolitik, in ökonomischen und sozialen Fragen, in der Frauen- und Jugendpolitik, überall sind im Gebälk der islamischen Staatsordnung riesige Risse entstanden.
Chatami hatte nie die Absicht, den islamischen Staat zum Sturz zu bringen, aber solange er an der Macht ist, wird sich der Zerfallsprozess dieses Staates fortsetzen. Die Islamisten legen ihm ständig Steine in den Weg, er stolpert, steht wieder auf, läuft behutsam und in kleinen Schritten weiter und ruft: Ohne eine zivile Gesellschaft kommen wir nicht weiter. Die kleinen Schritte haben den Staatspräsidenten nicht allzu weit gebracht. Und doch ist das Land nicht dasselbe, was achtzehn Jahre lang ausschließlich von Islamisten beherrscht wurde.
Am wichtigsten ist, dass die politische Atmosphäre sich grundlegend verwandelt hat und dass die Menschen trotz Zunahme der Gewalt keine Angst mehr haben. Selbst einfache Bürger nehmen kein Blatt vor den Mund. Dieses Selbstbewusstsein, das bei Frauen und Jugendlichen am stärksten gewachsen ist, wäre ohne die Ära Chatamis kaum denkbar. Doch nun ist die Entwicklung in einer Phase angelangt, in der die verbale Kritik nicht mehr ausreicht. Die Fronten sind heute so klar wie nie zuvor. Das Volk ist der schönen Worte überdrüssig, es will Taten sehen. Aber dafür scheint Chatami nicht geeignet zu sein. Er ist, wie viele bereits gesagt haben, eher ein Philosoph als ein Politiker, eher ein Mann der Worte, als ein Mann der Tat. Er ist immer der Gewalt der Islamisten ausgewichen und hat es nie gewagt, ihnen seine Macht, das Votum der überwiegenden Mehrheit des Volkes, entgegenzusetzen. Erst jetzt, nachdem das Volk die Hoffnung an ihn weitgehend verloren hat und seine engsten Mitarbeiter ihn gedrängt haben, hat er eine Initiative gewagt und zwei Gesetzentwürfe vorgelegt. Der erste Entwurf soll ihm die Möglichkeit geben, Verfassungsbrüche, vor allem seitens der Justiz zu verhindern und zu ahnden. Der zweite soll die Macht des Wächterrats einschränken und ihm ein ideologisches Aussieben der Kandidaten bei den Parlaments- und Kommunalwahlen untersagen. Sollten die Entwürfe am Veto des Wächterrats scheitern, erwägt die Reformfraktion, das Parlament zu verlassen. Auch Chatami wird, meinen seine engsten Berater, im Falle einer Ablehnung sein Amt niederlegen, mit Recht, denn sonst würde er seine Glaubwürdigkeit vollends verlieren.
Doch die Rechten wollen unter keinen Umständen einen Machtzuwachs der Reformer dulden. Seitdem Chatami die beiden Entwürfe eingereicht hat, spitzt sich die Lage immer weiter zu: Die Justiz, Speerspitze der Konservativen, benutzt jeden Vorwand, um namhafte Repräsentanten der Reformbewegung in Haft zu nehmen; der Wächterrat, der die Beschlüsse des Parlaments auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung prüft, blockiert jede Reforminitiative; die Revolutionswächter, die Basidschi und ähnliche paramilitärische Organisationen überfallen Versammlungen, Verlage, Zeitungsredaktionen, und Revolutionsführer Chamenei heizt immer weiter die Stimmung an. Letzte Woche drohte er: Sollten die drei Gewalten nicht in der Lage sein, die wichtigen Probleme des Landes zu lösen, werde er „die Gewalt des Volkes“ einsetzen. Jeder im Land weiß, dass dies die Anrichtung eines Blutbads bedeuten würde.
Der Kampf zwischen den beiden Lagern hat die entscheidende Phase erreicht. Jetzt dürfen sich die Reformer unter keinen Umständen einschüchtern lassen. Sie müssen hart bleiben – in diesem Widerstand liegt ihre Chance, vermutlich die letzte. Vielleicht verleihen ihnen die Proteste der letzten Tage mehr Mut dazu. BAHMAN NIRUMAND
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