Krone der Schröpfung

Erst der Fleischverzehr ließ das Gehirn des Menschen so leistungsfähig werden

von UTE SCHEUB

DER KÜNSTLICHE EBER: Er wirkt plötzlich lächerlich, der Kraftprotz aus Bronze, der seit Jahrzehnten vor dem Deutschen Hygiene-Museum die Erdkugel stemmt. Seine Erhabenheit ist dahin, seit Scippy, das elektrifizierte Plastikschwein auf Rädern, ununterbrochen seine Füße umrundet. Scippy ist ein Ersatz-Eber, sauber, freundlich und pflegeleicht. Normalerweise rollt er in einem Saustall hin und her, um die empfindlichen Zuchtsauen bei Gesundheit und Laune zu halten. Und nun umkreist das Fleisch gewordene Betrugsmanöver also die selbst ernannte Krone der Schöpfung. Ein vieldeutiges Bild: Scippy macht seinen Schöpfer zum Gespött seiner eigenen Erfindungen.

Während draußen Scippy seine Runden zieht, werden drinnen zur Ausstellungseröffnung Brötchen mit Schweineschinken gereicht. „Die Ausstellung ist keine Anklage“, stellt Museumsdirektor Klaus Vogel bei der Pressekonferenz klar. Sie stelle jedoch „Fragen an uns alle, an unsere Moral und Menschlichkeit“. Sie thematiere den „Perspektivwechsel“, „den Menschen im Spiegel des Tieres“, ergänzt sein Projektleiter, der Biologe Jasdan Joerges.

Wenn Menschen sich in Tieren spiegeln, was könnte dabei herauskommen? Wir reden von „Menschlichkeit“, wenn wir grundgute Verhaltensweisen meinen, die die gegebene Menschheit nicht im mindesten repräsentieren. Wir sprechen von „viehischen“ oder „bestialischen“ Handlungen, wenn wir von Menschen begangene Verbrechen meinen, zu denen die so geschmähten Viecher oder Bestien mangels intellektuellem Planungsvermögen nie in der Lage wären. Linksradikale wie die RAF nahmen das „Schweinesystem“ ins Visier, Nazis und Neonazis stellen bewusst Assoziationen zwischen den „nach Gold schnüffelnden Juden“ und den in den eigenen Exkrementen wühlenden Schweinen her. Dieses alles thematisiert die Schau allerdings nicht, wie sie denn überhaupt vieles nur sehr oberflächlich abhandelt – wohl nicht aus Unvermögen, sondern des Platzmangels wegen: Das Museum wird derzeit umgebaut.

DIE SCHWEINEGÖTTIN: Im schummerigen Halbdunkel des letzten Ausstellungssaales schwimmen drei Seen: der Tränensee, der Blutsee, der Spermasee. Drei Flüssigkeiten, die Menschen und Tieren für alle Zeiten gemeinsam sind. Hier soll der Ort sein, an dem Mischwesen flüstern, wo Mythen und Visionen entstehen. Eine Inszenierung, wirkungsvoll auch am Rande des Kitsches. In den Vitrinen hocken ägyptische und griechische Göttinnen und Götter in Gestalt von Nilpferden, Löwen, Schakalen, Katzen und Sphinxen. Dass die Schweinegöttin nicht darunter ist, eine der ägyptischen Urgöttinnen, die später mit der Himmelsgöttin Nut verschmolz, ist nur ein Zufall. Ganz anders als heute wurde das Schwein in der Frühzivilisation im gesamten Mittelmeerraum wegen seiner geradezu göttlichen Fruchtbarkeit verehrt. Wie denn überhaupt die vielfach unglaublichen Fähigkeiten von Tieren den Menschen Anlass waren, sie zu vergöttern, anzubeten und zu verewigen – in Höhlenmalereien, in Statuen, später als Wappentiere auf Helmen und Schilden. Die Wildsau wurde zum Symbol der Gebärmutter, im Griechischen hieß das Schwein hys und der Uterus hystera, aber erst das misogyne europäische Bürgertum nannte die Gebärmutterbesitzerinnen „hysterisch“.

DIE SCHLACHTSAU: Schlachterwerkzeug hängt im weiß gekachelten Raum. Auf den Monitoren Schlachtszenen. Besucherinnen und Besuchern steht der Ekel ins Gesicht geschrieben. „Stumme Diener“ heißt der Teil der Ausstellung, der sich dem widmet, was Fleischesser gemeinhin aus ihrem Bewusstsein aussparen. „Ich bestelle eine Steak, und der Unmensch von Schlachter tötet ein Rind!“, so charakterisierte Bertolt Brecht einst das menschliche Nicht-wissen-Wollen.

Für einen einzigen Einwohner eines Industrielandes werden am Ende seines Lebens durchschnittlich 649 Nutztiere gestorben sein. 600 Hühner + 22 Schweine + 20 Schafe + 7 Rinder = 1 Mensch.

In Deutschland hat sich der Fleischkonsum in den letzten 200 Jahren mehr als vervierfacht: Pro Kopf und Jahr stieg er von rund 20 Kilogramm um das Jahr 1800 auf derzeit rund 90 Kilogramm. Allein für die Bevölkerung Westeuropas lassen jährlich an die 200 Millionen Tiere – Geflügel und Fische nicht mit gerechnet – ihr Leben, ein Viertel davon unbetäubt.

„Ohne Tier kein Mensch“, bringt Projektleiter Jasdan Joerges die Sache auf den Punkt. Womöglich erst durch die Fleischfresserei konnte das menschliche Gehirn seine Leistungsfähigkeit entwickeln – und immer neue Ideen zur Optimierung der Fleischproduktion ersinnen. Die menschliche Kultur ist auf einem gewaltigen Berg von Tierknochen gebaut. Tiere lieferten Fleisch, Eier und Milch, Leder und Felle. Ochsen zogen Pflüge und Karren, Pferde starben zu Millionen auf den menschlichen Schlachtfeldern.

Moralische Skrupel hatten Menschen dabei selten, zumal die meisten Religionsführer die bedenkenlose Ausbeutung absegneten. Nicht einmal die Aufklärer machten dem ein Ende: Für Descartes bestand die Kreatur aus mechanischen Automaten, Kant erklärte die „vernunftlosen Tiere“ zu „Sachen“, mit denen man „nach Belieben schalten und walten kann“.

Erst 1824 entstand in London der erste Tierschutzverein. Dass Tiere gnadenlos ausgebeutet, dass sie an unterster Stelle der gesellschaftlichen Hierarchie „unbeschreiblich, unausdenklich“ leiden müssten, diesen Gedanken formulierte 1968 auch Rudi Dutschke. Allen 68ern und allen Tier- und Artenschutzabkommen zum Trotz hat diese „Tierhölle“ (Dutschke) heutzutage eine historisch einmalige Größe angenommen. „Der Landkreis Vechta in Südniedersachsen zum Beispiel weist eine mehr als zwanzigfach höhere Großtierdichte auf als die weltberühmte Serengeti“, schreibt Biologieprofessor Josef H. Reichholf in seinem Aufsatz im Ausstellungskatalog. Um die Fleischgier der Deutschen zu stillen, würden in einem einzigen Jahr über 43 Millionen Schweine geschlachtet.

Die Nutztiere in unserer „Super-Serengeti“ bringen laut Reichholf, verglichen mit uns selbst, inzwischen mehr als das Doppelte auf die Waage. Darunter leiden nicht nur sie selbst, sondern auch jede Menge andere Tiere. „In Deutschland gehen rund drei Viertel aller Arten von Säugetieren und Vögeln, deren Bestände rückläufig geworden sind und die als gefährdet in die Roten Listen aufgenommen werden mussten, auf das Konto der Landwirtschaft“, stellt der Professor fest.

EIN SCHWEINCHEN NAMENS BABE: Die Kehrseite der Barbarisierung ist die Verkitschung. Ein Schweinchen namens Babe, Porky Pig oder die drei kleinen Schweinchen – überall treffen wir niedliche rosa Frätzchen, die uns und unseren Kindern das schlechte Gewissen ausreden sollen. Die Ausstellung hat hier einige beeindruckende Exponate aufzuweisen: ein Hundehochzeitskleid in weißer Spitze, ein Zahnpflegeset für Katzen mit Fischgeschmack oder das „Missy Project“ eines US-Millionärs, der unbedingt seinen geliebten Collie Missy klonen will.

DAS MENSCHWEIN: In der Vitrine ist ein Schweineherz neben einem Menschenherzen ausgestellt, die Ähnlichkeit ist frappant. Das arme Schwein hat das Pech, in manchem dem Menschen organisch ähnlich zu sein und deshalb als Ersatzteillager zu dienen. Schweinische Bauchspeicheldrüsen dienten früher zur Herstellung von Insulin. Heute versucht man, Schweineorgane menschenkompatibel zu machen, indem man menschliche Gene in das Schweinesperma einschleust.

Noch einen Schritt weiter ging die australische Genfirma Amrad, die 1999 ein Patent zur Vermehrung von Stammzellen einer Mensch-Tier-Chimäre anmeldete. Womit wir erneut im letzten Saal der Ausstellung angelangt wären, im Saal der Chimären und unheimlichen Mischwesen.

Das Menschwein – ist das die Zukunft für Mensch und Tier? Oder anders gefragt: Ist das Schweinesystem noch zu stoppen?