: Die Pyramiden von Annaberg
Im „Weihnachtsland“ Erzgebirge leben ganze Orte vom Schnitzhandwerk. Zu Weihnachten stellen sich auch US-Amerikaner gern einen Schwibbogen auf den Wohnzimmertisch. Nussknacker und Räuchermänner tragen die Uniformen der Bergleute
von MICHAEL BARTSCH
Weihnachten hat nicht nur eine Zeit, sondern auch einen Ort. Wer denkt noch an ein von Panzern umstelltes Bethlehem? Südlich von Chemnitz dagegen, im Erzgebirge, sind all die lieblichen Therapeutika zu Hause, die der gemütskalten deutschen Weihnachtsstube zur ersehnten Herzenswärme verhelfen sollen: Schwibbogen, Nussknacker, Krippen, beleuchtete Kirchenmodelle, Pyramiden mit im Kreis rasenden Englein, Lichterengel, musizierende Engel, Räuchermänner mit und ohne Bauchladen und in allen archaischen Berufsgruppen nebst zugehöriger Räucherkerzen.
Vieles ist aus den Attributen des Erzbergbaus im Mittelalter hervorgegangen, und das „Weihnachtsland“ entspricht in seinen Umrissen auch ungefähr der Bergbauregion, die einst den Reichtum Sachsens begründete. Der Schwibbogen erinnert an den Stolleneingang, die Pyramide an das Göpelwerk, klassische Nussknacker und Räuchermänner tragen die Uniformen der Steiger und Bergknappen.
Ungefähr ab dreihundert Höhenmetern südlich der A 72 sehen die Dörfer und Märkte anders aus als sonst zur deutschen Einheitsweihnacht. Kaum ein Ort ohne große Pyramide, überlebensgroße Nussknacker und Spielzeugfiguren. Schwibbogen überspannen gelegentlich die Straße. Kaum ein Dorf auch ohne Erzgebirgsstube, wo es all dieses im Zimmerformat zu sehr unterschiedlichen Preisen zu kaufen gibt. „Sehnsucht nach Licht“ lautet eine säkulare Erklärung für die Entstehung des Leucht-, Riech- und Schnitzwerks. Denn in der Winterzeit sah der Bergmann kaum das Tageslicht. Frömmer klingt der Hinweis auf die einstige Abgeschiedenheit der Bergdörfer, wo man mangels Gelegenheit zum Christmettenbesuch sich selbst Devotionalien um die Geburtslegende Christi herum anfertigte.
„Wenn die Adventszeit ran ist, dreht der Arzgebirgler durch“, beschreibt der Pyramiden- und Schwibbogenbauer Gerd Protzner die bis heute unverfälschte Mentalität des Bergvolkes, die allem Weihnachtsbrauch so nahe steht. Tiefe Gläubigkeit, Gemütlichkeit, Besonnenheit, Heimatgefühle tauchen auch in dem dank der dritten deutschen Lautverschiebung unverwechselbaren Liedgut auf: „Es lechten übern Haamitland …“. Was andernorts ob schlichter Einfalt ein Lächeln auslösen kann, klingt hier glaubwürdig und authentisch.
Zwei Vierzehnjährige auf dem Annaberger Weihnachtsmarkt kauen zwar einen türkischen Döner, bejahen aber selbstverständlich das Fortleben der Tradition auch in ihrer Generation. Neben der Familie sorgt dafür ebenso die Schule, wo in jeder Musikstunde Weihnachtslieder gelernt werden. Man ist halt im konservativ-königstreuen Arzgebirg. Der Kreis Annaberg verzeichnet übrigens die höchste Arbeitslosigkeit, zugleich aber die beständigste CDU-Wählerschaft in Sachsen!
Gerd Protzner aus Gornsdorf steht mit seiner kleinen Dreileutemanufaktur aber auch ganz nüchtern für eine Entwicklung, die Parallelen zum Niedergang des mittelalterlichen Bergbaus aufweist. Spielzeugindustrie oder Musikinstrumentenbau traten im 16. und 17. Jahrhundert an die Stelle der früheren Erwerbszweige. Auch Protzner war bis 1990 Ingenieur in der seinerzeit größten Leiterplatten- und Steckverbinderfabrik der DDR in Gornsdorf. Nach deren Zusammenbruch machte er das Hobby zum Beruf, denn Schnitzen und Holzbasteln kann schließlich so gut wie jeder im Erzgebirge. „Ein Verzweiflungsakt, denn nach dem Westen wollte ich nicht!“ Ein durchaus erfolgreicher für den schuldenfreien Kleinbetrieb, auch wenn die Lizenz nicht einfach zu bekommen war. Denn die Platzhirsche in Handwerkskammer und Kunsthandwerkerverband standen dem Quereinsteiger ohne Meisterbrief anfangs skeptisch gegenüber.
„Ich kann Ihnen kaum noch etwas zeigen, es ist alles raus!“ Gerd Protzner kann nicht über schlechte Umsätze klagen, auch wenn das Geschäft sich immer mehr auf die letzten Wochen unmittelbar vor dem Fest konzentriere. „Die Schnitzer und Drechsler, meine Zulieferer, haben auch alle Arbeit“, zeichnet Protzner ein freundliches Bild der Branche.
Im Nitroduft der Werkstatt, wo außer einer Fräse kaum Maschinen zu entdecken sind, pinselt Mitarbeiter Wolfgang Günther an einer Pyramide. Auch er sichert sich als ehemals arbeitsloser Fräser nun mit Erzgebirgsartikeln seine Existenz. Oben in der Weihnachsveranda steht ein mehr als einen Meter hohes Prachtstück, für das man schon 700 Euro hinlegen müsste. Es gibt genügend Leute, die das tun.
Ursprünglich zur häuslichen Erbauung gedacht, in der DDR Export- und so genannte Bückware unterm Ladentisch, galt es nach 1990 zunächst den Nachholbedarf einheimischer Kunden zu befriedigen. 85 Prozent des Geschäftes wird in Deutschland gemacht, vom Rest geht die Hälfte in die USA. Geschäftsführer Dieter Uhlmann vom Verband erzgebirgischer Kunsthandwerker und Spielzeughersteller blickt auf ein bis zum Jahr 2000 anhaltendes stetiges Wachstum zurück. Nach einer Stagnation im Vorjahr wird der Umsatz in diesem Jahr erstmals leicht fallen, prognostiziert er.
Uhlmanns Firma und der Verbandssitz befinden sich in Olbernhau und damit in einer Gegend, die wirtschaftlich vom Freistaat besonders gefördert worden ist. Hier sei man im Haupterwerb auch ganz besonders von der Spielzeug- und Figurenherstellung abhängig, rechtfertigt er die Zuwendungen. Am bekanntesten dürfte das benachbarte Seiffen sein, das traditionell am dritten Advent mit 25.000 Besuchern stets das Achtfache seiner Einwohnerzahl anzieht.
„Das Erzgebirge besteht nicht nur aus Seiffen“, murrt dagegen Christine Meyer aus Crottendorf in Sichtweite des 1.214 Meter hohen Fichtelberges. „Christines Weihnachtsland“ hat die gelernte Korbmacherin in zehn Jahren zu einem professionell-touristischen Kleinod ausgebaut. Aus eigener Kraft, ohne Verbandshilfe, lediglich in einem privaten Viererverbund unter anderem mit der bekannten Räucherkerzenfabrik am Ort. Man setzt auf Originale wie die Crottendorfer Lichterpuppe und Spezialitäten wie richtige „Hutzenobnde“ in der Stube. Innerhalb einer Stunde fahren drei volle Busse mit schwatzenden Rentnern vor, alles selbst akquiriert. Stolz ist bei den Inhabern zu spüren, die Schulden endlich abgeschüttelt zu haben, aber auch eine gewisse Verbissenheit. Denn neben der regional sehr unterschiedlichen Förderung drücken Zulieferer Preise nach oben und einheimische Konkurrenten die Preise nach unten. Der neue Erzgebirgsmarkt kennt keine Solidarität, und beim Geld endet die Gemütlichkeit.
Weniger als erwartet macht die Billigkonkurrenz asiatischer Plagiate zu schaffen. Die Zertifizierung als „Echt Erzgebirge“ durch den Verband ist eigentlich überflüssig, die Unterschiede sieht jeder Laie. Neun Gerichtsurteile schützen die Marke zusätzlich. Was ohnehin keiner kopieren kann, ist die unvergleichliche Weihnachtsatmosphäre hier oben. Der Höhepunkt steht noch bevor, die Große Bergparade am vierten Advent in Annaberg, der heimlichen Hauptstadt des Erzgebirges.
Infos: Tourismusverband Erzgebirge e. V. , Adam-Ries-Str. 16, 09456 Annaberg-Buchholz, Tel. (0 37 33) 18 80 00, www.tourismus-erzgebirge.deSchnitzschule, u. a. mit Urlaubskursen, im Haus des Gastes „Erzhammer“ in Annaberg-Buchholz , Tel. (0 37 33) 42 52 56
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