Architektur auf dem Land: Was ein gutes Leben braucht
Welche Architektur passt in die Provinz? Mit vielen Beispielen nähert sich eine Ausstellung des Frankfurter Architekturmuseums dieser Frage.
Wer gute Architektur auf dem Land sehen möchte, muss aufs Land fahren. Wenngleich man die gut 30 Kilometer vor den Toren Frankfurts in anderen, weitläufigeren Teilen der Welt wohl noch gar nicht unbedingt als Provinz betrachten würde. „Schön hier! Architektur auf dem Land“ heißt die Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums (DAM), das nicht wie gewohnt am Mainkai oder im aktuellen Interimsquartier am Osthafen zu sehen ist, sondern im Hessenpark in Neu-Anspach.
Im DAM freut man sich über die ungewöhnliche Präsentationsmöglichkeit: Die Ausstellung soll nicht (nur) das übliche Museumspublikum erreichen, das ohne Auto ob des bescheidenen öffentlichen Nahverkehrs tatsächlich eine etwas längere Anreise unternehmen müsste. Sondern vor allem auch jene Menschen, die das Thema unmittelbar selbst betrifft. Entscheidungsträgerinnen und -Träger, Bewohnerinnen und Bewohner. Und da das eigene Haus des DAM derzeit ohnehin umgebaut wird, bot das Freilichtmuseum mit seinen großzügigen historischen Bauwerken und den beachtlichen Besucherzahlen eine gute Gelegenheit zur Präsentation.
Im Anschluss wird die Schau als Wanderausstellung in weitere Orte ziehen, 15 sollen bereits bestätigt sein. Wer es trotzdem nicht hinschafft, findet im Katalog zur Ausstellung reichlich Anregungen für Bauen auf dem Land – klug gestaltet, sozial oder ökologisch nachhaltig oder beides. Fachpublikum soll außerdem in Online-Seminaren abgeholt werden. Der Hessenpark bietet mit dem „Kompetenzzentrum Fachwerk“ zudem eine Anlaufstelle für nachhaltige Baustoffe und Fachwerksanierung.
„Schön hier! Architektur auf dem Land“, bis 27. November, Freilichtmuseum Hessenpark, Laubweg 5, Neu-Anspach
Erstaunlich ist daran aber gar nicht so sehr, wo und wie die Schau präsentiert wird. Sondern dass sie tatsächlich die erste ihrer Art ist. Schließlich sind rund 90 Prozent der Fläche in Deutschland als ländlich charakterisiert – und mit 47 Millionen Menschen wohnt über die Hälfte der Bevölkerung jenseits der großen Städte. Ähnlich sieht es im europäischen Durchschnitt aus.
Das Thema sei im Architekturmuseum schon länger virulent gewesen, erzählt Direktor Peter Cachola Schmal. Als die Pandemie dann voll zuschlug, das Homeoffice kurz einmal zum Standard zahlreicher Bürojobs avancierte und der Traum vom Leben mit Fläche und Aussicht auch die Großstädter erfasste, wurden die Pläne konkreter.
Bürohaus oder Ziegenstall
Siebzig Bauten aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie einigen Nachbarländern hat das kuratorische Team als Fallbeispiele für gute Architektur auf dem Land ausgewählt. Bewusst beispielhaft, nicht umfassend. Hinzu kommen Schwerpunktregionen, zum Beispiel im Schwarzwald oder in Thüringen, die die Umgestaltung ihrer Lebensumgebung besonders umfassend entwickelt und vorangetrieben haben (der Süden Deutschlands ist ebenso überdurchschnittlich vertreten wie der Osten). Vorgestellt wird das Bauwerk von Menschen, die unmittelbar mit ihm zu tun haben: Bürgermeister, Architektin, Büchereidirektorin, Hausbesitzer.
Es sind größere Architekturen dabei und auch ganz kleine. Bürogebäude, Wohnsiedlungen und Grundschule ebenso wie Schneiderei, Waldhaus oder Ziegenstall. Ein vierstöckiges Gemeindezentrum mit weitreichendem Platz für Sport- und Freizeitangebote, einschließlich Bibliothek und zehn Wohneinheiten – und eine winzige Bergkapelle als Rast für Wanderer, erbaut aus den Überresten ihrer Vorgängerin, die eine Lawine niedergewalzt hatte.
Interessanterweise teilen Stadt und Land auch dieses Problem: die Verödung der Innenstädte respektive Ortskerne, das Anwachsen der Speckgürtel. Teures Bauland, versiegelte Flächen. In der Ausstellung wird hierfür das Bild vom Donut gewählt – das kreisrunde Gebäck mit seinem Loch in der Mitte ist erklärtes Negativbeispiel für die Entwicklung in zahlreichen Gemeinden.
Im Kern zusammenhängen
Gute Gestaltung hingegen bedeutet: Orte und Kleinstädte sollen (wieder) zum Kreppel, Berliner, Krapfen, in Berlin entsprechend Pfannkuchen werden. Mit einem zusammenhängenden Kern, in dem sich das Leben abspielt. Und weil der Handel eben dazugehört, wird der Tante-Emma-Laden auch schon einmal ins Gemeindezentrum integriert – einleuchtend, wo sich der Betrieb allein vermutlich kaum noch rentieren dürfte.
Zwar zeigt die Ausstellung durchaus Neubauprojekte und solche in Einzellage, vor allem aber Beispiele gelungener Umnutzung, Umgestaltung oder von Erweiterungsbauten. Wohnen, Arbeiten und Freizeit spielen ebenso eine Rolle wie Kultur und, wenngleich in deutlich geringerem Maßstab, Tourismus. Spannend ist die Umgestaltung kompletter Dorfkerne, in denen neuer Wohnraum im Zentrum des Geschehens geschaffen wird – lang gezogene Dächer sorgen für Privatsphäre trotz unmittelbarer Nähe.
Nebenbei lehrt die Schau einige regionale Besonderheiten. So lernt man hier beispielsweise die Tradition des Stöckli beziehungsweise Auszugshauses, das in der Schweiz als Altersstätte für pensionierte Altbauern und -Bäuerinnen dient, kennen. Überhaupt nimmt eine nachhaltige Gestaltung des ländlichen Lebensraums nicht allein die junge, einkommensstarke Familie – beliebter Prototyp des neuen Landbewohners, mit ihren bekannten Bedürfnissen – in den Blick, sondern fragt auch, was ältere oder kranke Menschen benötigen, um in ihrer gewohnten Umgebung gut leben zu können. Freundlich gestaltete Therapiezentren oder eine Tagespflege sind weitere Positivbeispiele der Ausstellung.
Keine Nostalgie, keine Postkartenidylle
Das Fazit ist keine Überraschung, aber wohl überraschend selten umgesetzt: Gute Land-Architektur muss keine hübschen Postkartenmotive liefern, sondern Lebensqualität für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Die hier vorgestellten Bauwerke sind so auch kaum nostalgisch, wie das in den deutschen Großstädten ja bisweilen zu spüren ist, oder ausgesprochen spektakulär gestaltet. Was umgekehrt nicht heißt, dass es hier mit viel Holz, zu Zwecken der Behaglichkeit eingezogenen Zwischendecken oder Naturstein nicht auch sehr malerisch ausschauen kann.
„Schön hier!“ geht es natürlich um gute Architektur auf dem Land. Aber mindestens ebenso um Entwicklungen, die eine gute Gestaltung ebenda anstoßen kann. Dazu braucht es mindestens ein engagiertes Architekturbüro, aber nicht nur. Fast immer ist die erfolgreiche Entwicklung ländlicher Lebensräume an den Einsatz ziviler Initiativen, von Kommunalpolitik, Bewohnerinnen und Bewohnern gebunden. So wie im sächsischen Wülknitz, wo der einst trostlose Ortskern durch eine neu gestaltete Kegelbahn wiederbelebt werden konnte, wie der Bürgermeister im Ausstellungs- und Katalogtext erzählt.
Oder, um es mit dem ironischen Witz von Max Otto Zitzelsberger zu sagen, der als Architekt die multifunktionale „Erkläranlage“ für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Berngau zu verantworten hat: „Man braucht nur einen visionären Bürgermeister, einen weitsichtigen Soziologen, außergewöhnliche Schulleiter und Schulleiterinnen, kreative Mitarbeitende der zuständigen Behörden, Handwerker und Handerwerkerinnen, die ihrem Beruf alle Ehre erweisen, und eine mutige Gemeinde – schon lässt sich ein Projekt realisieren, das so in Bayern eigentlich undenkbar wäre.“
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