Architekt über die Städte der Zukunft: „Die Leute wollen Gesellschaft“
Der Architekt Jan Gehl entwirft Konzepte und baut Metropolen um. Braucht eine digitalisierte Gesellschaft überhaupt noch Innenstädte?
taz: Herr Gehl, Netflix statt Kino, chatten statt verabreden, online bestellen statt zum Supermarkt oder in den Buchladen gehen. Lässt das Internet Innenstädte aussterben?
Jan Gehl: In den kleineren Städten haben wir tatsächlich ein Problem, weil der Internethandel zahlreiche Läden ruiniert. Aber es ist keineswegs so, dass der Onlinehandel Schuld daran ist, dass Innenstädte verwaisen.
Sondern?
Momentan sind Fußgängerzonen, oder auch Innenstädte ganz allgemein, Orte des Konsums. Das muss aber nicht so sein. Wenn man vor 30 Jahren, auch in Deutschland, die Leute befragt hat, warum sie in die Innenstadt gehen, dann sagten sie damals, sie sind in der Stadt, um einzukaufen. Aber mittlerweile sagen die Leute: Sie sind in der Innenstadt, um in der Innenstadt zu sein. Zu schauen, was so los ist, eine gute Zeit zu haben. Früher haben die Leute in einer dichten Stadt gelebt, und sind in die Natur gefahren. Heute leben sie in Vororten und fahren in die Stadt. Zu dem gleichen Zweck.
Zur Erholung?
Ja, um ihre Freizeit zu verbringen, raus zu kommen. Mit dem Unterschied: Wir haben mehr Freizeit als je zuvor. Die Menschen arbeiten, um sich eine schöne Freizeit machen zu können und die Bedeutung von Freizeit, von dem, was wir in dieser Zeit tun, wird immer größer.
Der Architekt: Der heute 80-Jährige arbeitet seit fast 60 Jahren als Architekt und Forscher für das Zusammenwirken von Architektur und Lebensqualität in Städten. Er war Professor für Urban Design und gründete 2000 sein eigenes Architekturbüro, das Städte weltweit berät.
Die Vision: Städte, die für Menschen gemacht sind. In zahlreichen Veröffentlichungen setzt er sich mit der Frage auseinander, warum Architekten ihre Gebäude nicht für Menschen planen – wie sich das ändern lässt.
Der Einfluss: Gehl lernte als junger Architekt seine zukünftige Frau kennen – eine Psychologin. Er betont, dass sein Ansatz, Städte als Plätze für Menschen zu begreifen, maßgeblich durch ihren Einfluss entstanden ist.
Die Arbeit: Unter den Städten, die sich Rat bei Gehl geholt haben, sind unter anderem das brasilianische São Paolo, Chongqing in China, das neuseeländische Christchurch, Brighton in Großbritannien oder Muskat, die Hauptstadt des Oman. Kopenhagen, wo alles begann, findet sich regelmäßig weit vorne bei den Rankings der Städte mit der höchsten Lebensqualität weltweit.
Was heißt das in Zeiten des Onlinehandels?
Die Idee einer Innenstadt als Einkaufsort ist obsolet. Die Innenstädte müssen dem Bedürfnis nach Freizeitgestaltung gerecht werden. Mit kulturellen Orten, mit Museen, mit Sportangeboten. Und auch mit Orten, an denen Menschen sich einfach so treffen können. Sie glauben doch nicht, dass es Zufall ist, dass der Boom der Coffeeshops mit dem der Smartphones zusammentrifft?
Nicht?
Nein. Natürlich könnten die Leute auch den ganzen Tag zu Hause sitzen mit ihrem Handy. Das machen sie aber nicht. Sie wollen die Gesellschaft. Treffpunkte.
Besteht nicht die Gefahr, dass durch Dienste wie Facebook und WhatsApp auch die Treffpunkte überflüssig werden?
Menschen sind Gesellschaftstiere. Sie nutzen Ihr Telefon und die Netzwerke, um sich mit anderen zu verabreden. Nehmen Sie den Arabischen Frühling: Die Mobilisierung lief über digitale Netzwerke. Aber der Protest brauchte genauso einen Ort, eine Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. In Kairo hat sich die Bewegung auf dem Tahrirplatz getroffen, in Istanbul auf dem Taksimplatz, in Bahrain, in der Ukraine – überall waren Plätze der Treffpunkt. Das Treffen, die Versammlung ist wichtiger denn je. Und es ist unmöglich, eine lebenswerte Stadt ohne diese öffentlichen Räume zu gestalten.
So einfach? Ein paar öffentliche Plätze und schon ist eine Stadt lebenswert?
Ja, so einfach.
Und warum haben wir dann nicht überall auf der Welt nur wunderbar lebenswerte Städte?
Na ja, es ist einfach und doch wieder nicht. Es liegen Welten zwischen einem gut und einem schlecht gemachten Platz.
Was macht den Unterschied aus?
Ein guter Platz ist wie eine gute Party – die Leute bleiben viel länger als geplant. Das Zitat habe ich an der Wand eines Bürgermeisterbüros in Rumänien gefunden. Und genauso ist es.
Und der beste Teil der Party ist in der Küche – was ist die Küche für eine Stadt?
Die Küche erreichen wir dann, wenn wir die Plätze klein machen, deutlich kleiner als wir denken. Dann fühlen die Menschen sich wohl. Man muss den Spaß konzentrieren und nicht versuchen, ihn auszubreiten.
Was macht also einen guten Platz sonst aus?
Wir haben zwölf Kriterien gefunden, aber das wichtigste ist Schutz. Schutz vor Verkehr, vor Belästigungen, vor Wind und Wetter – in anderen Regionen der Welt ist es eher der Schutz vor Sonne. Man kann Hunderte Blumenkästen und Bänke aufstellen, wenn der Schutz nicht gegeben ist, wird niemand kommen und sich hinsetzen. Ein guter Ort spricht die Sinne an.
Das heißt?
Es geht darum, Städte im menschlichen Maßstab zu gestalten. Im Prinzip haben wir in jeder Stadt nur zwei Arten öffentlicher Räume, Straßen und Plätze. Die Straße, die muss auf den Füßen basieren und auf der Geschwindigkeit, in der sich Menschen bewegen. Diese Geschwindigkeit hat sich über Jahrhunderte nicht geändert, es sind immer noch etwa fünf Kilometer die Stunde. Und so muss eine ideale Straße signalisieren: Lauf, mein Freund. Und nicht: Nimm das Auto.
Und der Platz?
Der Platz muss sich nach dem menschlichen Auge richten, nach dem, was man sehen, überblicken kann. Ein guter Platz darf nicht größer oder weiter sein als das menschliche Auge sehen kann. Daher ist der Tiananmen-Platz in China kein Platz mit menschlichem Maßstab. Es ist nur ein großes Areal.
Wo ist die Grenze?
Auf allen guten Fußballplätzen weltweit sitzen die Menschen nicht mehr als hundert Meter vom Feld entfernt, weil sie sonst das Spiel nicht sehen können. Das ist die Grenze.
Lassen Sie uns ein paar Entwicklungen der Digitalisierung durchgehen und Sie sagen, ob sie gut oder schädlich für eine lebenswerte Stadt sind: selbstfahrende Autos.
Die sind nur gut für die Autoindustrie. Für eine Stadt könnte es zwar tatsächlich weniger Stau bedeuten. Aber es würde nicht das Problem lösen, dass Autos einfach viel zu viel Platz wegnehmen. Daher nicht gut.
Virtual Reality Spiele wie Pokemon Go.
So etwas wird Menschen nur für kurze Zeit auf die Straße bringen. Wirklich nachhaltig ändert das nichts.
Drohnen.
Also ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der sich alle gegenseitig ihre Valentinstags-Herzen per Drohne schicken.
Car-Sharing.
Das könnte tatsächlich gut sein. Wenn Autos geteilt werden, und es damit deutlich weniger gibt, dann würden die Städte sehr viel besser machen.
Öffentliches Wlan.
Das ist eine großartige Idee. Hier kommt das beste der beiden Welten zusammen: Die Menschen können ihr Facebook-Profil checken und gleichzeitig sind sie draußen und sehen, was passiert. Früher haben die Menschen ihre Zeitung mitgenommen, aber die hatte genau den gleichen Zweck: Nicht albern auszusehen, wenn man da rumsitzt.
Die Vernetzung von Städten, sogenannte Smart Cities.
Humbug. Lauter Gimmicks, die dazu dienen, mehr zu verkaufen. Städte werden davon nicht besser oder lebenswerter. Die Stadt der Zukunft sollte wie Venedig sein. Das ist eine Stadt, die wirklich auf die Bedürfnisse von Fußgängern ausgerichtet ist. Den ganzen Verkehr oder das wenige, was hoffentlich nur davon übrig sein wird, den kann man dann einfach in den Untergrund verlagern.
Und was ist mit den Radfahrern? Die gibt es Venedig nicht.
Ja, man sollte da jetzt nicht zu pedantisch sein. Die dürfen nach oben. Aber sonst ist es die perfekte Stadt, die signalisiert: Lauf. Schauen Sie, ich nutze das hier.
Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und öffnet eine App. Es ist ein Schrittzähler.
Heute war es nicht gut, ich bin zu wenig gelaufen, noch weit von den 10.000 Schritten entfernt. Auf 8.000 muss ich aber definitiv noch kommen. Bewegung ist wichtig, deshalb ist eine gute Stadt nicht nur lebenswert und nachhaltig, sondern auch gesund für ihre Bewohner.
Er wischt auf dem Bildschirm herum.
Auch gestern war nicht gut, es hat geregnet in Kopenhagen. Aber der Monat insgesamt war in Ordnung.
Apps, die Schritte zählen, sind auch so ein Produkt der Digitalisierung …
Ja, das stimmt. Und mir hilft es, mich mehr zu bewegen. Aber in einer Stadt, die zum Laufen einlädt, bewegen wir uns auch so genug. Die Digitalisierung ist wie die Blumenkästen: In einer guten Stadt kann sie etwas Positives dazu beitragen. Aber alle Apps und Gimmicks schaffen keine lebenswerte Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück