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Archäologe über Kolonialismus„Schädel mit Würde behandeln“

Der Archäologe Bernhard Heeb hat im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz versucht, die Herkunft von 1.200 menschlichen Schädeln aufzuklären.

Bernhard Heeb im Archäologischen Zentrum Berlin Foto: Sophie Kirchner
Interview von Anne Haeming

taz: Herr Heeb, die raumhohen Holzregale hier in Ihrem Büro sehen deutlich älter aus als wir alle zusammen. Woher sind die?

Bernhard Heeb: Die gehören zur Erstausstattung des Pergamonmuseums von 1930 und standen wohl im Direktorenzimmer. Sie lagerten zuletzt in einem Büro, und als sie vor zwei Jahren entsorgt werden sollten, habe ich gesagt: Das kommt überhaupt nicht in die Tüte.

Was ist das älteste Objekt im Regal?

Original?

Ja.

Tatsächlich das Regal, glaube ich. Der Rest sind Repliken. Oder doch, die Kupferschlacke da (deutet auf ein flaches, schwarzes Ding). Ob sie 2000 oder 5000 Jahre alt ist, ist schwer zu sagen.

Was ist das Besondere daran?

Es ist das Rohprodukt der Metallverarbeitung. Wenn man das einschmilzt, kann man daraus Artefakte machen. Man entdeckt das gelegentlich bei Fundstellen.

Ihr Spezialgebiet sind eher die Endprodukte dieses Rohstoffs.

Ich bin spezialisiert auf die Bronzezeit, auf bronzezeitliche Artefakte wie Schmuck oder Waffen und auf sonstige Spuren, die der Mensch im Boden hinterlassen hat. Das mache ich hauptsächlich – wenn ich mich nicht gerade mit Ostafrika beschäftige. Aber in Ruanda grabe ich nicht, ich mache historische Provenienzforschung.

Sie meinen das Projekt, das Sie gerade abschließen: die Erforschung eines Teils der Schädelsammlung des Anthropologen Felix von Luschan. Was haben Sie untersucht?

Aufgrund der Inventarnummern wissen wir, dass einst rund 6.600 Schädel zu der Sammlung gehörten, heute sind es noch 5.400. Wir wissen bis heute nicht, was mit den fehlenden geschehen ist. In diesem Pilotprojekt wollten wir herausfinden, woher der größte zusammenhängende Teil stammt und wie er erworben wurde: etwa 1.200 Schädel, die mit „Deutsch-Ostafrika“ bezeichnet sind. Wir hatten in der Regel nur die Inventarnummern und ein paar alte Listen der Charité, wo die Sammlung seit 1948 verwahrt war. Viele der Schädel waren Tansania zugeordnet, aber es stellte sich bei unserem Projekt heraus, sie sind größtenteils aus Ruanda.

Also unzuverlässige Quellen.

Ja, zum Beispiel waren auf vielen Schädeln Beschriftungen angebracht. Diese Vermerke waren gelegentlich auch falsch, weil damit auch Geld verdient wurde – etwa weil Herr von Luschan in Berlin Schädel von einer gewissen Ethnie haben wollte und dafür mehr bezahlt hat. Es war ein Geschäft.

Im Interview: Bernhard Heeb

Der Mensch Bernhard Heeb (*1975) ist Kustos am Berliner Museum für Früh- und Vorgeschichte, das im Neuen Museum auf der Museumsinsel untergebracht ist, und leitet derzeit die Erforschung der Luschan-Sammlung. Heeb kuratierte auch die Wikinger-Ausstellung, die 2014 im Gropiusbau lief. Seine nächste Ausstellung, „Schliemanns Welten“, wird voraussichtlich 2021/22 im Neuen Museum zu sehen sein. Seine Dissertation schrieb er über das „Bodenseerheintal als Siedlungsraum und Verkehrsweg”.

Die Sammlung Der österreichische Anthropologe und Ethnologe Felix von Luschan (1854–1924) arbeitete ab 1885 am Berliner Völkerkundemuseum und begann, die sogenannte „S-Sammlung“ anzulegen: laut erhaltener Inventarnummern 6.500 Schädel aus der ganzen Welt, auch aus ehemaligen deutschen Kolonialländern. 5.400 sind erhalten. Ab 1948 waren sie in der Obhut der Charité, im Jahr 2011 hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sie übernommen.

Die Forschung Die Erforschung eines ersten Teils von rund 1.200 Schädeln in einem Pilotprojekt ist nun nach zwei Jahren abgeschlossen. Das Ergebnis: 822 stammen aus Ruanda, 250 aus Tansania, bei 50 Schädeln ist die Herkunft nicht zu klären. Kritik kam immer wieder von Interessenverbänden in Herkunftsländern. Sie warfen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vor, die Erforschung der Schädel und damit die potenzielle Rückgabe hinauszuzögern.

Wofür steht die Sammlung denn?

Für die Wissenschaftswelt des späten deutschen Kaiserreichs in Berlin und das damalige Sendungsbewusstsein und Weltmachtstreben Deutschlands. Sie war fast global angelegt: Nur wenige Winkel der Welt sind nicht vertreten. Und die Sammlung sagt etwas über die Person Felix von Luschan: ein Anthropologe, der aus Wien nach Berlin kam und aufgesaugt wurde vom Berliner Wissenschaftszentrum rund um Rudolf Virchow, der Medizin, Politik, Archäologie und Anthropologie prägte.

Im Kaiserreich war genug Geld da, um Expeditionen zu finanzieren, um Sachen anzukaufen. Heute ist die Sammlung Teil des öffentlichen Diskurses, wegen ihrer teils kolonialen Geschichte, aber natürlich auch weil wir eine solche Sammlung menschlicher Überreste heute niemals mehr anlegen würden und sich ein anderes Unrechtsbewusstsein entwickelt hat.

Dennoch ist sie wissenschaftlich interessant, weil man anhand menschlicher Überreste dank neuer technischer Entwicklungen in der Genetik alte Krankheiten, Migrationsbewegungen, Ernährungsgewohnheiten erforschen kann. Aber so etwas kann man nicht machen, solange die Herkunft und die damit verbundenen Fragen nicht geklärt sind.

Archäologie und Politik hingen sehr eng zusammen – auch weil Luschan mit der Sammlung eine Rassentheorie aufstellen wollte.

Je mehr Material, desto bessere Daten, war wohl seine These. Deswegen auch die Menge an Schädeln. Mit Beginn des ersten Weltkriegs und erst Recht danach brach die Sammlungstätigkeit aber ab, vor allem nach dem Tod Virchows und Luschans. Es war auch nicht mehr opportun. Die Sammlung geriet dann in Vergessenheit.

Wann haben Sie zuerst von der Sammlung gehört?

Als sie 2011 von der Charité an unser Haus kam. Den Namen Luschan kannte ich, vom Rest wusste ich so gut wie nichts, wie die meisten anderen auch. Dass die Sammlung überhaupt existiert, wusste zwei, drei Jahre zuvor kaum jemand, sie galt als zerstört. Anfangs war ich noch nicht damit befasst. Wir haben sie auf gut Deutsch in einem katastrophalen Zustand übernommen und einige Jahre gebraucht, um sie wieder in Ordnung zu bringen, die Gebeine zu reinigen, teils zusammenzusetzen, zu dokumentieren und fachgerecht unterzubringen.

Wie waren sie denn zuvor aufbewahrt?

In alten Kartons, in einem unwürdigen Zustand. Sie waren in einem feuchten Bunker der Charité gelagert. Da sind über die Jahre große Wasserschäden entstanden, die Sammlung wurde nicht getrocknet, die unteren Lagen waren zerdrückt und verschimmelt. Ich will aber die Charité nicht nur kritisieren, es gab ja auch ein erstes DFG-Projekt zur Untersuchung der Schädel. Aber mein Eindruck ist, wenn wir sie nicht übernommen hätten, wären die Gebeine heute vielleicht gar nicht mehr erhalten. Heute ist allen klar, dass so nicht mehr mit human remains umgegangen werden kann.

Weshalb?

Weil es nicht würdevoll ist, schlicht und ergreifend. Auch archäologische menschliche Überreste muss man, egal wie alt sie sind, mit Würde behandeln. Das ist in der Charité meines Erachtens nicht ausreichend geschehen.

Und wo lagern sie jetzt?

Im Depot in Friedrichshagen. Auch in Kartons, das ist klimatechnisch am besten. Sie sind sauber, trocken und vor allem schimmelfrei, nach Nummern sortiert und jederzeit auffindbar.

Da wir nicht in Friedrichshagen sind: Wie sieht es dort genau aus?

In den Regalreihen stehen neutrale graue Kartons, etwa 60 Zentimeter lang. In jeden passen etwa vier Schädel. Jeder ist in eine saubere, weiße Papiertüte eingepackt, darauf steht der Stempel mit der Inventarnummer, die auch auf dem Schädel steht.

Womit wurde das denn geschrieben?

Mit schwarzer Tinte.

Das hält so dauerhaft?

Das liegt an der porösen Struktur von Knochen.Die Tinte wurde schon um 1900 aufgebracht. Nur der Schimmel radiert einzelnes aus, aber in der Regel hält das für immer und ewig.

Wie kommt denn ein Bronzezeit-Spezialist überhaupt dazu, dieses Projekt zu leiten?

Wir Archäologen haben viel mit menschlichen Überresten zu tun. Ich habe in meinem Leben auch Gräber ausgegraben, die viele tausende Jahre alt sind, allerdings in Europa. Und wir gingen ursprünglich davon aus, dass in der Sammlung mehr archäologische als koloniale Überreste zu finden sind.

Wie unterscheiden Sie das?

Wenn Sie ein antikes Gräberfeld aus Ägypten haben, sind das archäologische Funde. Auch etwa die Hälfte der Luschan-Sammlung sind Archäologika.

Wie ziehen Sie diese Grenze? Was gehört zurück an den Ort, an dem es entnommen wurde? Auch Ägypten will ja die Nofretete zurück.

Ausgrabungen in Ägypten oder Südamerika hatten damals in der Regel eine gewisse rechtliche Grundlage, auf der die Objekte nach Deutschland kamen. Bei kolonialzeitlichen Schädeln muss man dagegen auch in Erwägung ziehen, inwiefern Deutsche Gewalt angewendet haben.

Sie meinen den sogenannten „Unrechtskontext“, in dem Objekte oder human remains aus den Herkunftsländern herausgelangten?

Der Begriff ist rechtlich nicht definiert und wird in den Diskussionen leider sehr unscharf genutzt.

Ein Argument lautet: Die Kolonialzeit an sich ist ein Unrechtskontext. Wie sehen Sie das?

Das ist eine schwierige Frage, das muss von Fall zu Fall beantwortet werden. Pauschalisierungen haben uns noch nie weitergeholfen. Aber was ist ein Unrechtskontext? Entsteht der nur, weil etwas im kolonialen Kontext erworben wurde? Oder weil es durch Gewaltanwendung angeeignet wurde?

Erwerben, aneignen, das ist ein deutlicher Unterschied.

Auch diese Begriffe werden nicht trennscharf benutzt.

Aber hier ist der Unterschied doch zentral, oder?

Erwerbung hört sich positiver an als Aneignung. Aneignung wird häufig in Zusammenhang mit Gewalt oder Unrecht gesehen. In der Regel würde ich sagen, Aneignung ist der passendere Begriff. Weil man ja tatsächlich in Gräber hineingegangen ist und sich die Schädel genommen hat, oftmals ohne Zustimmung. Teil meiner Aufgabe gerade bei den kolonialen human remains ist es, herauszufinden, welche Spuren ich finden kann, um diese Frage zu klären.

Nach welchen Merkmalen schauen Sie?

Ich bin kein Jurist, und manche Maßstäbe, die heute gelten, sind nicht auf damaliges Verhalten anwendbar. Aber die menschlichen Überreste aus Namibia, die aus einer Sammlung der Charité zurückgegeben wurden, sind ein eindeutiges Beispiel: Deutsche jagten Menschen in die Wüste und ließen sie verhungern. In Tansania erhängten sie Menschen und nahmen ihre Köpfe mit nach Deutschland.

Was soll das sein, wenn nicht ein Unrechtskontext? Aber wenn der ruandische König Widersacher tötet und die Schädel als Geschenk den Deutschen gibt, ist das im eigentlichen Sinne ein Unrechtskontext? Das kann ich nicht beantworten. Aber wenn Ruanda Schädel aus der Kolonialzeit zurückhaben will, ist der Unrechtskontext meines Erachtens zweitrangig.

Weshalb?

Wenn vor 100 Jahren jemand in den Friedhof meiner Heimatstadt eingedrungen wäre und die Schädel entnommen hätte, wäre ich davon auch nicht begeistert. Deswegen stand für mich schon immer außer Frage, dass wir die Schädel, über die wir hier sprechen, zurückgeben.

Es gibt ein Zitat von Ihnen, das anders klingt. Sie sagten: Museen seien nicht dazu da, Sammlungen zurückzugeben, sondern um sie zu bewahren und zu erforschen.

Damit meinte ich, dass es Teile dieser Schädelsammlung gibt, die archäologisch sind und daher nicht unter diese Diskussion fallen. Klar ist: Wir gehen heute anders mit diesen Sammlungen um als noch vor fünf Jahren.

Was heißt das?

Früher hätte man die Interessen der Herkunftsgesellschaften nicht so mit einbezogen. Das ist heute eine ganz grundsätzlicher Aspekt unserer Arbeit. Deswegen arbeiten wir auch ganz eng mit Ruanda zusammen. Ich kann als deutscher Akademiker nicht einschätzen, welche Gefühle die Schädel in Ruanda hervorrufen. Das hat sich tatsächlich sehr verändert.

Die Haltung Ihrer Arbeit gegenüber?

Nein, der Sammlung gegenüber. Für einen Archäologen ist ein Schädel zunächst ganz neutral ein Datenträger, der 10.000 Jahre alt ist, da gibt es keine genealogischen Verbindungen mehr. Wir haben dabei nicht die moralischen Bedenken wie bei human remains aus jüngerer Zeit, umso mehr aus kolonialem Kontext.

Was ist der aktuelle Stand?

Das Pilotprojekt steht kurz vor Abschluss. Wir wissen bis auf etwa 50 Schädel sehr genau, woher sie kommen: 822 aus Ruanda, 250 aus Tansania, keiner aus Burundi.

Wie haben Sie das herausgefunden?

Manchmal gab es die Angabe eines Dorfnamens auf dem Schädel, das haben wir mit Reisebeschreibungen der Sammler abgeglichen. So ließ sich manchmal sogar herausfinden, dass ein Schädel an einem bestimmten Tag aus dieser oder jener Höhle entnommen wurde. Die Feldarbeit vor Ort haben unsere ruandischen Kooperationspartner von der Universität und dem Nationalmuseum übernommen. Auch sie wollen wissen, wie die Schädel erworben wurden.

Mit einem Fragenkatalog reisten sie durch die Regionen, Dörfer, Städte, die wir identifizieren konnten. Sie versuchten, die Erinnerungen an die Deutschen und ihr Sammeln zu dokumentieren und mehr über die historischen Grabriten herauszufinden. Überraschenderweise ist die Erinnerung an die Deutschen kaum mehr existent, die an die Belgier schon. Manches wird den Deutschen zugeordnet, ist aber nachweislich unter belgischer Herrschaft passiert.

Was passiert nun mit den Schädeln?

Das hängt von den Herkunftsländern ab, mit denen wir natürlich im Gespräch sind. Solange es dort keine eindeutige Position gibt, können wir nur sagen, dass wir bereit sind, sie zurückzugeben. Ich gehe davon aus, dass das kurz- bis mittelfristig auch passiert.

Ein Satz, der immer wieder kursiert: Man kann etwas nur zurückgeben, wenn man weiß, woher es kommt. Dahinter vermuten Interessensgemeinschaften aus Herkunftsländern eine Verzögerungstaktik. Können Sie das nachvollziehen?

Nein, der Satz bezieht sich darauf, dass man nicht Schädel nach Tansania zurückgeben kann, die nach Ruanda gehören und umgekehrt. Es geht uns darum, Zweifel auszuräumen. Ich kann die Beobachtenden nur aufrufen, etwas mehr Geduld zu haben.

Da mit dieser Sammlung so umgegangen worden ist, wie Sie erzählten, gibt es da wohl eine gewisse Skepsis.

Das kann ich nachvollziehen. Im Nachhinein kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Es gab jahrelang kein Interesse an einer gesellschaftlichen Diskussion über die deutsche Kolonialzeit – und damit auch keines daran, diese Sammlung zu erforschen. Genau das tun wir nun.

Was haben Sie in den zwei Jahren Provenienzforschung vermisst?

Nichts. Ich arbeite zeitgleich an zwei Grabungsprojekten in Ungarn und in Rumänien. Eines in Kirgistan läuft erst noch an, da war ich letzte Woche.

Was graben Sie da aus?

Das wird jetzt vielleicht etwas langweilig. Ich interessiere mich für spätbronzezeitliche Siedlungsstrukturen und Grabsitten. Die Siedlung in Rumänien ist die größte prähistorische Fundstätte Europas – ich möchte wissen: Warum haben die Menschen damals genau dort gebaut? In Kirgistan interessiert mich, wie die Leute auf Hochplateaus zwischen 2.000 und 3.000 Metern gelebt haben.

Haben Sie schon etwas gefunden?

Ja, Grabfelder. Interessant ist, dass das eine klimatisch sehr extreme Region ist. Es sind Himalaya-Ausläufer, da können Sie bei minus 50 Grad im Winter nicht leben. Im September ziehen die Leute mit ihrem Vieh ins Tal . Aber dieses Plateau ist an einer klimatischen Kippe – und wir wollen wissen, ob es in der Bronzezeit, vor 3.500 Jahren, möglich war, dort permanent zu leben.

Gibt es Fundstücke, die Sie immer in der Nähe haben, um sich an bestimmte Entdeckungen zu erinnern?

Ach, erinnern tut man sich auch so. Das Besondere sind nicht die Funde. Sondern jene Momente, wenn einem etwas klar wird.

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