Arbeitskampf bei Lieferdiensten: Kein Streik ist illegal
Der Lieferdienst Gorillas entlässt massenhaft aktive Arbeitnehmer:innen. Die Entlassungen könnten rechtswidrig sein.
Doch handelt es sich beim Streikrecht nicht um ein grundgesetzliches Menschenrecht? Die Sache ist wohl etwas komplizierter, da die Arbeitsniederlegungen der Beschäftigten spontan geschahen. Bis heute hat keine Gewerkschaft den Arbeitskampf formal übernommen. Solche „wilden Streiks“ sind laut deutschem Arbeitsrecht formal illegal.
Dass wilde oder auch politische Streiks in Deutschland illegal sind, liege an der Rechtsprechung der Nachkriegszeit, sagt Martin Bechert. Diese sei stark von der NS-Vergangenheit vieler damaliger Richter:innen geprägt gewesen. Der Arbeitsrechtsanwalt vertritt 20 der gefeuerten Gorillas-Rider, die sich gegen ihre Kündigungen wehren wollen. Bechert glaubt dennoch, dass wilde Streiks auch in Deutschland legal seien. Inzwischen gelte auch hier die Europäische Sozialcharta – und nach dieser sei Streiken auch ohne gewerkschaftliche Organisation legitim.
Verbindlich zu klären wäre die Frage wohl nur in einem langwierigen und grundsätzlichen Gerichtsprozess. Zu diesem werde es aber gar nicht erst kommen, so Bechert. Denn die Kündigungen seien schon aus viel simplerem Grund „haltlos“: Viele der Rider wurden zuvor nicht abgemahnt. Noch klarer sei die Rechtslage bei denjenigen seiner Mandant:innen, die auf einer Vorschlagsliste für die laufende Betriebsratswahl standen.
Turbokapitalistische Geschäftspraktiken
Bechert glaubt, Gorillas sei sich darüber bewusst, dass das Unternehmen vor Gericht kaum eine Chance besäße. Es setze darauf, dass sich die Mehrheit der Rider nicht wehren werde. Viele seien Migrant:innen, die nicht ein halbes Jahr auf ein Urteil des Arbeitsgerichts warten könnten. „Sie müssen essen, also suchen sie sich notgedrungen einen neuen Job“, so Bechert. Gorillas bediene sich der „turbokapitalistischen Geschäftspraktik, jeden, der einem aus welchem Grund auch immer nicht passt, rauszuschmeißen“.
Auflösen könne den Schlamassel die Gewerkschaft Verdi. Würde sie den Streik formal übernehmen, wäre er nachträglich legitimiert, sagt Bechert – auch die Kündigungen wären damit rechtswidrig. Die Gewerkschaft aber lehnt das ab. Verdi-Pressesprecher Andreas Splanemann betonte zwar gegenüber der taz, dass er die Massenentlassungen von Gorillas für eine „absolute Sauerei“ hält. Es sei dennoch „falsch“ von den Ridern gewesen, sich für wilde Streiks zu entscheiden.
Der „richtige Weg“, um sich gegen die Schwere von Rucksäcken oder die Kündigung von Kolleg:innen zu wehren, ginge über einen Betriebsrat, in dem derlei Probleme „gemeinsam mit dem Arbeitgeber angegangen“ werden könnten. Wer für solche Ziele streike, liege „quer zum deutschen Arbeitsrecht“, so Splanemann: „Dass es hier keine politischen Streiks gibt, schützt ja auch die deutsche Wirtschaft und damit Arbeitsplätze.“
Zwischen den Vorstellungen der Rider und der traditionellen Gewerkschaften liegen also Welten. Es sei für viele aus Lateinamerika oder Südeuropa stammende Rider „unverständlich, dass in Deutschland Arbeitskämpfe nur sehr eingeschränkt erlaubt sind“, sagt auch Bechert. Verdi hofft dennoch auf Mitgliederzuwachs. „Dann können die Arbeitnehmer:innen kollektiv für Lohnverbesserungen eintreten“, so Splanemann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken