„Aquarius“ darf keine Flüchtlinge retten: Plötzliches Ende einer Rettung

Am Wochenende brach die italienische Leitstelle den Rettungseinsatz eines Bremer Schiffs auf dem Mittelmeer ab und schickte es zurück in den Hafen.

Flüchtlinge auf einem Schlauchboot

Es geht um Leben und Tod: Die Aquarius bei der Rettungsaktion am vergangenen Wochenende Foto: Anthony Jean/SOS Mediterranee

BREMEN taz | Mit gehisster bremischer Flagge und den besten Wünschen der Bürgermeister ist die Aquarius im Februar 2016 in See gestochen. Allein in den neun Monaten danach hat das Schiff über 6.000 Menschen in Seenot aus dem Mittelmeer gerettet. Als Schirmherr hat Bremens Bürgermeister Carsten Sieling die Rettungsmission von SOS Mediterranée auf den Weg gebracht und auch sein Kollege aus Bremerhaven, Melf Grantz (beide SPD), hat damals gewinkt. Politische Unterstützung könnten die Seenotretter mit dem Schiff aus der Bremer Lürssen-Werft jetzt wieder gebrauchen.

Am vergangenen Samstag hat die Besatzung der Aquarius wieder 73 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Das Schiff ist eines der größten Rettungsschiffe im Einsatz – es passen bis zu 500 Personen unter Deck. Aber seit einiger Zeit ist es für Organisationen wie SOS Mediterranée kompliziert geworden: Die Anzahl der Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, nimmt zwar ab, aber gleichzeitig steigt die Todesrate, wie Zahlen der internationalen Hilfsorganisation IOM zeigen. Denn wenn die libysche Küstenwache nicht Geflüchtete und Retter*innen mit Waffen bedroht, schiebt die italienische Küstenwache einen Riegel vor die Rettungsmissionen.

So erging es der Aquarius am vergangenen Wochenende. Nachdem sie die 73 Menschen aus einem sinkenden Schlauchboot gerettet hatte, wurde ihr Rettungseinsatz von der italienischen Rettungsleitstelle abrupt beendet.

Die Italiener teilten dem Schiff mit, dass es mit den Geretteten unverzüglich den Hafen von Messina, Sizilien, anfahren sollte, obwohl an Bord noch 427 Plätze frei waren. Aus Sicht der Besatzung war ihr Einsatz noch nicht beendet: Das Wetter war gut, und in der Regel wagen die meisten Menschen die lebensgefährliche Überfahrt, wenn es zumindest nicht nach Sturm aussieht.

30.000 überwiegend junge Menschen sind in den vergangenen 16 Jahren im Mittelmeer ertrunken (Oxford-Studie von 2017).

Ab 2013 versuchten Menschen zunehmend aus Nordafrika über das Mittelmeer vor Bürgerkriegen, terroristischer Bedrohung, Armut und Hunger zu fliehen.

Die EU-Kommission wollte das italienische Rettungsprogramm „Mare Nostrum“ nicht mitfinanzieren, daraufhin wurde es eingestellt – das Projekt hatte bis 2014 rund 150.000 Schiffbrüchige gerettet.

2015 gründete der Kapitän Klaus Vogel SOS Mediterranee nach dem Vorbild der zivilgesellschaftlichen Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger – als nichtstaatliche Hilfsinitiative zur Rettung Geflüchteter aus Seenot im Mittelmeer.

„Normalerweise bleiben wir in einem Gutwetter-Fenster länger draußen und patrouillieren vor der libyschen Küste“, sagt Jana Ciernioch von SOS Mediterranée. Begründungen für das jähe Ende des Einsatzes durch die italienische Leitstelle gab es zunächst nicht. Später heißt es, es sei nur in einem kleinen Zeitfenster und in diesem Hafen möglich gewesen, die 73 Geretteten aufzunehmen.

Unübliches Vorgehen

Auf Anfrage der taz schreibt die italienische Seenotleitstelle, dass man die ohnehin bereits müden Migranten nicht überstrapazieren wollte und daher umgehend einen sicheren Hafen ansteuern musste. Ein unübliches Vorgehen, wie SOS Mediterranée in einer Mitteilung inf mehreren Sprachen schreibt.

Per Funk machten die Seenotretter gegenüber der Rettungsleitstelle klar, dass sie zumindest noch einen Tag draußen bleiben wollten. „Bei einem Gutwetter-Fenster müssen wir auf See bleiben, sonst ist die Gefahr hoch, dass Leute sterben“, sagt Ciernioch. Aber die Leitstelle blieb bei ihrer Anweisung.

Warum sich die Aquarius nicht einfach den Befehlen der italienischen Leitstelle widersetzte? Solange man den Ordern entsprechend handele, bekomme man einen sicheren Hafen zugewiesen, erklärt Ciernioch. Spurt man nicht, kann es passieren, dass das Rettungsschiff beschlagnahmt wird, wie es einer katalanischen NGO mit dem Schiff „Open Arms“ passiert ist. Dort war man im März einem Boot in Seenot zu Hilfe gekommen, dessen Rettung die libysche Küstenwache für sich beansprucht hatte. Als die nirgends zu sehen war, nahm die Open Arms Frauen und Kinder an Bord.

Als die libysche Küstenwache doch noch auftauchte, beanspruchte sie die bereits an Bord befindlichen Frauen und Kinder auf dem NGO-Schiff, um sie nach Libyen zurückzubringen – unter der Androhung von Beschuss. Nach zwei Stunden intensiver Verhandlungen mit Italien und Libyen durfte die Open Arms mit Kindern und Frauen weiterfahren.

Allerdings weigerte sich Italien danach einen Tag lang, dem Schiff einen sicheren Hafen anzubieten. Erst verspätet durfte es schließlich in Sizilien anlegen. Wenig später wurde das Schiff beschlagnahmt. Die Crewmitglieder durften Sizilien nicht verlassen – wegen Verdachts auf eine „kriminelle Vereinigung, die illegale Einwanderung begünstigt“.

Eskalation nimmt zu

Die Aquarius ersparte sich das und kooperiert lieber mit der Leitstelle in Italien. Aber die Gesamtsituation macht den Retter*innen zu schaffen: Die Übertragung von Verantwortung auf libysche Behörden sei problematisch, sagt Ciernioch.

Die Eskalation habe zugenommen. Man stehe als deeskalierende und unbewaffnete NGO auf einmal bewaffneten Einheiten gegenüber. Die Rückführung bereits in internationalen Gewässern befindlicher Personen sei ein Völkerrechtsbruch – bei alledem fehle ein Aufschrei.

„In welche Position geraten wir eigentlich als zivile Seenotretter, wenn wir zusehen müssen, wie Leute, die gerade geflohen sind, in das Land zurückgebracht werden, aus dem sie weg wollen und zurück in den Kreislauf der Gewalt kommen?“, fragt sie. Die aktuelle europäische Politik interessiere sich eher für die weitere Auslagerung der Migrationskontrolle.

Statt Solidarität erfahren NGOs immer wieder Kritik: Seenothelfer*innen seien dafür verantwortlich, dass viele sich überhaupt trauten, über das Mittelmeer zu fliehen. Eine Studie der Uni Oxford kam allerdings zu dem gegenteiligen Schluss: Es käme demnach nicht zu einer Sogwirkung durch NGOs. Vielmehr versagten Staaten darin, eine angemessene Reaktion auf eine anhaltende humanitäre Katastrophe zu finden.

In Bremen ist man da nicht weiter: Die Anfrage, ob sich der ehemalige Schirmherr der Aquarius, Bürgermeister Sieling, zu dem Vorfall äußern wolle, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.