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Apps für Menschen mit BehinderungEine App fürs Leben

Für alles gibt es mittlerweile eine App. Nur nicht eine, mit der Menschen mit Behinderung Alltag und Assistenzen organisieren können.

Nicht unsere Autorin, sondern eine andere junge Frau, die mehr vom Smartphone profitieren könnte Foto: RyanJLane/Getty Images

Gestatten, Laura, 22, Arbeitgeberin. Mein Unternehmen hat derzeit acht Mitarbeiter, Tendenz steigend.

Ich bin körperlich behindert und in allen Bereichen des Lebens auf Assistenz angewiesen. Man könnte diesen Umstand als mein „Business Case“ bezeichnen. Meine Mitarbeiter finden, dass ich eine gute Chefin bin. Das freut mich natürlich, es würde mich aber noch viel mehr freuen, wenn ich eine Software hätte, die sich um meinen mittlerweile ungefähr fünf Kilogramm schweren Papierstapel auf dem Schreibtisch kümmert.

Der ein oder andere wird sich jetzt fragen, warum ich nicht „Pflegekräfte“ sage und von einem Pflegedienst oder eine Einrichtung versorgt werde. Ich möchte das kurz erläutern: Als junge Frau, die ihr gesamtes Leben noch vor sich hat, möchte ich mein Tun und Handeln nicht von der Personalentscheidung anderer abhängig machen. Ich möchte eine gute Zusammenarbeit mit meinem Team, und das geht nur, wenn es auch zwischenmenschlich passt.

In Zeiten von Pflegekräftemangel und der daraus resultierenden Personalnot ist es den Diensten nicht mehr möglich, zwischenmenschliche Aspekte in der Neuzusammensetzung von Pflegeteams zu berücksichtigen. Außerdem ist in meinem Fall nach ausgiebiger Einweisung auch eine Versorgung durch ungelernte Kräfte möglich. Warum soll ich also den Leuten das examinierte Personal wegnehmen, die es wirklich brauchen?

Wenn ich meine Versorgung selbst organisiere, habe ich übrigens Freiheiten, die ich bei einem Pflegedienst nicht hätte. Dazu gehört zum Beispiel die freie Wahl des Ortes für den Schichtwechsel, denn ich bin ja nicht immer zu Hause. Außerdem bestimme ich die Aufgaben meiner Assistenzen und bin nicht an den Leistungskatalog eines Pflegedienstes gebunden. Nur deshalb gibt es in meiner Wohnung noch echte, lebendige Pflanzen. Da mein Team nicht nur die pflegerische Versorgung übernimmt, sondern auch die Entfernung ungebetener, achtbeiniger Mitbewohner und das Gießen der Pflanzen, habe ich keine „Pflegekräfte“, sondern Assistenten.

Übervolle Aktenordner

Um Services wie diese genießen zu können, muss ich in Kauf nehmen, dass ich einen gewissen Mehraufwand an Organisation, Zeit und Nerven aufbringen muss. Ich übernehme als Chefin nicht nur die Fürsorgepflicht gegenüber meinen Angestellten, gleichzeitig erledige ich auch die Aufgaben, um meine Versorgung zu planen. Dazu gehören zum Beispiel das Erstellen des Dienstplans, das Vertretungsmanagement und selbstverständlich die pünktliche Überweisung des Lohns.

Dies sind nur wenige Beispiele meiner Aufgaben als Arbeitgeberin, insgesamt beherbergt mein Ordnerschrank fünf große, teils übervolle Aktenordner mit Papierkram rund um die Assistenz und das dafür notwendige persönliche Budget.

Ganz ehrlich, ich persönlich sehe es nicht ein, wo ich gerade bin, immer eine Kladde mit einem einzelnen Bogen für die Pflegedokumentation dabeizuhaben. Das ist mir viel zu umständlich. Aktuell trage ich die erbrachten Leistungen zu Hause nach, einfach aus der Erinnerung. Da passieren natürlich hin und wieder Fehler. Tragisch ist das nicht, ein korrekter Nachweis der Leistungserbringung aber auch nicht.

Wie kann es sein, dass sich jeder das Müsli zum Frühstück mit einer App nach Hause bestellen kann, ich hingegen weder vom Start-up nebenan noch von einem großen Softwarehersteller ein Tool zur Bewältigung der anfallenden Verwaltungsaufgaben bekomme, das innerhalb weniger Tage und vielleicht sogar zwischen Tür und Angel programmiert werden könnte?

Verzichtbare Ausgaben?

Diese unbefriedigende Situation ist lange Zeit auch in der wirtschaftlich orientierten Pflege die Regel gewesen. Seit einigen Jahren gibt es für große Einrichtungen und Dienste aber entsprechende Software und Apps, um die Verwaltung, die Dokumentation und die Nachweiserbringung gegenüber dem Kostenträger zu vereinfachen.

Software für Pflegedienste oder Einrichtungen haben noch viele weitere nützliche Funktionen, wie zum Beispiel die Bonussysteme fürs Einspringen in anderen Pflegeteams oder vollständig automatisch generierte Abrechnungen. Mit diesen Funktionen erleichtern sich Pflegedienste die Organisation ungemein, für die persönliche Assistenz wären diese Funktionen jedoch vollkommen unnötig.

Jede zusätzliche Funktion einer App kostet den Entwickler Zeit und ist somit ein Kostenfaktor. Das ist auch das Hauptproblem und der Grund dafür, warum bisher keine Software für die Verwaltung eines Assistenzteams existiert. Das persönliche Budget, worüber meine Assistenz finanziert wird, ist in meinem Fall eine Leistung der Krankenkasse und des Sozialamts. Diese Kostenträger bestimmen im Endeffekt, wofür ich das erhaltene Geld ausgebe. Gegenüber dem Einsatz von Verwaltungssoftware sind sie grundsätzlich abgeneigt, denn aus ihrer Sicht sind das Ausgaben, auf die „verzichtet“ werden kann.

Start-ups sind damit beschäftigt, die einmillionste App für das Fitness-Workout zu programmieren, das die Nutzer im Endeffekt nach einer Woche schon wieder abbrechen

Doch die Pflegedokumentation lässt sich ohne eine App nicht gut digitalisieren. Mal abgesehen davon, dass der Nachweis der Pflegedokumentation von den Kostenträgern nur stichprobenartig eingefordert wird, steht aktuell in meinem Regal ein Ordner mit 406 Blättern Pflegedokumentation, wovon mindestens 400 in spätestens einem Jahr dem Aktenvernichter ungelesen zum Opfer fallen werden. Mit einer App auf einem Smartphone wäre der Papierkram hinfällig, denn die Pflegedokumentation ließe sich mit wenigen Berührungen ausfüllen und speichern.

Die Frage des Datenschutzes

Wenn die Nachweise eingefordert werden würden, könnte man sie direkt an den Träger übersenden oder ausdrucken. Den Dienstplan könnten alle Mitarbeiter in seiner aktuellsten Form über ihr digitales Endgerät abrufen und die Dienste als Termin in ihrem Kalender eintragen. Es könnte einen Algorithmus geben, der automatisch darauf achtet, dass jeder Mitarbeiter nach seiner vertraglich festgelegten Stundenanzahl arbeitet, der darauf achtet, dass am Ende des Jahres jeder Urlaubstag genommen wurde, und der die Wünsche meiner Mitarbeiter automatisch berücksichtigt.

Unendlich könnte ich auf diese Art weiter aufzählen, mir würden noch so viele Funktionen einfallen, die uns Assistenznehmer*innen im persönlichen Budget den Alltag unglaublich erleichtern würden. Aber wofür? Denn das Problem ist nicht nur, dass die Entwicklung einer Software bedeutet, dass auch Geld in die Hand genommen werden muss. Das Problem ist auch, dass Start-ups damit beschäftigt sind, die einmillionste App für das Fitness-Workout zu programmieren, das die Nutzer im Endeffekt nach einer Woche schon wieder abbrechen.

Aktuell gibt es in den App-Stores einige gratis verfügbare Apps fürs Dienstplanmanagement. Problematisch ist bei allen jedoch der Datenschutz, denn um sich einloggen zu können, muss der Mitarbeiter mit seiner E-Mail-Adresse und seinem Namen registriert werden.

Bei gratis verfügbaren Apps bin ich mir persönlich unsicher, was mit den eingegebenen Daten am Ende wirklich passiert. Auch in der Zuverlässigkeit lässt deren Performance zu wünschen übrig. Während ich eine dieser Apps testete, kam es recht häufig vor, dass Mitarbeiter nicht zum Dienst erschienen, weil ihnen nicht der aktuelle Plan angezeigt wurde.

Relativ schnell bin ich wieder zur alt bewährten Excel-Tabelle zurückgekehrt. Und wie viele andere Arbeitgeber*innen mit Behinderung warte ich immer noch auf ein ehrenamtliches Projekt, das die benötigte App programmiert. Einfach nur weil Unternehmen lieber das nochmals programmieren, was es schon gibt.

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