Anwältin über Flüchtlingsstrom nach Italien: "Der Exodus wird weitergehen"
Die italienische Regierung ist an der Notstandssituation auf Lampedusa gelegen, sagt Anwältin Paola La Rosa. Mit der taz spricht sie über Fluchtgründe und die Zukunft der Insel.
taz: Frau La Rosa, in Lampedusa herrscht humanitärer Notstand. Wie kam es dazu?
Paola La Rosa: Am Donnerstagabend gegen 21 Uhr ging die Nachricht um, dass sich auf der Hafenmole 258 frisch eingetroffene Immigranten befänden. Das Innenministerium in Rom verfügte daraufhin, sie sollten dort im Freien übernachten. Das Aufnahmelager der Insel sollte auf keinen Fall geöffnet werden, obwohl es komplett funktionstüchtig war. In Wirklichkeit nämlich ist dieses Lager mit 850 Plätzen nie geschlossen worden; die Infrastrukturen sind perfekt in Schuss, und der Staat leistet es sich, weiterhin das Personal zu bezahlen.
Was war die Folge?
43, Rechtsanwälting. Sie lebt seit zehn Jahren auf Lampedusa. Sie ist im Kulturverein Askavusa aktiv, der sich mit der Situation der Migranten befasst und ein Museum der Emigration plant. La Rosa und ihre Mitstreiter leisten auch praktische Hilfe.
Es war bizarr: Die Mitarbeiter des Lagers übernahmen die Betreuung und Versorgung der Immigranten mit Lebensmitteln oder Kleidung - durften das aber nicht im Lager tun. So wurde der Notstand gleichsam künstlich herbeigeführt. In jener Nacht sanken die Temperaturen auf 7 Grad. Erst als der Pfarrer sich bereit erklärte, die Flüchtlinge in der Pfarrei unterzubringen, wurden sie in Hotels geschafft. Doch der Abtransport mit Kleinbussen dauerte so lange, dass sie am Ende doch die ganze Nacht in der Kälte ausharren mussten.
Wie ging es dann weiter?
Von Freitagnacht an eskalierte die Situation mit weiteren hunderten Ankünften. Doch das Innenministerium hielt stur an seiner Linie fest, das Lager nicht zu nutzen. Stattdessen kamen die Flüchtlinge in ein Seniorenzentrum und ins Zentrum der Naturschutzparkverwaltung, wo sie auf dem nackten Boden schlafen mussten - viele aber fanden selbst dort keinen Platz.
Die Regierung hat darauf hingewiesen, dass Flüchtlinge sofort weggeschafft werden.
In der Tat wurde eine Luftbrücke nach Sizilien und zum italienischen Festland errichtet. Gleichzeitig aber kamen mehr Menschen an, als abtransportiert werden konnten. Erst am Sonntagabend kam endlich die Anweisung, das Lager doch zu öffnen. Am Montag hielten sich dort mehr als 2.000 Personen auf. Damit hat sich die Situation etwas entspannt - weiterhin aber kommen Boote an. Das Problem der Regierung ist, dass sie auch nicht weiß, wo sie die Leute in Italien hinschaffen soll. Sie ist auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet, obwohl sie durchaus absehbar war nach dem Umsturz in Tunesien.
Was ist von der Warnung des Innenministers Roberto Maroni zu halten, unter den Tunesiern könnten Al-Qaida-Kämpfer sein?
Meiner Meinung nach müsste der Mann sofort zurücktreten. Wenn es wirklich so wäre, dann wäre es ja noch gravierender, dass die Regierung sich auf diese Lage keinen Deut vorbereitet hat. Sie würde Lampedusa mit seinen 6.000 Einwohnern - und in Zukunft ganz Italien - ja gleichsam einer Bedrohung überlassen, die sie nicht im Griff hat.
Wie geht es weiter? Kommen immer noch Flüchtlinge an?
Genaue Zahlen habe ich nicht, aber in der Nacht zum Montag trafen wieder hunderte Menschen ein. Zurzeit verschlechtert sich die Wetterlage, wird das Meer rauer. Es ist nur zu hoffen, dass die Tunesier in den nächsten Tagen nicht in See stechen, weil sonst auch Katastrophen nicht auszuschließen wären. Doch sobald das Meer wieder ruhiger wird, wird der Exodus weitergehen. Die Tunesier, mit denen ich bisher gesprochen habe, kommen alle aus ganz wenigen Städten im Süden des Landes, aus Djerba oder Zarzis - anderswo hat sich die Nachricht von der neuen Ausreisemöglichkeit über See offenbar noch gar nicht herumgesprochen. Es ist also durchaus möglich, dass die Auswanderungswelle deutlich größere Ausmaße annimmt.
Auch dass Menschen aus anderen Ländern den Weg über Tunesien wählen?
Das ist eine sehr realistische Möglichkeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass tausende Personen aus Eritrea, Somalia und anderen Ländern in Libyen festsitzen, seitdem Gaddafi mit Italien in der Flüchtlingsabwehr kooperiert. Viele von ihnen könnten sich jetzt nach Tunesien aufmachen.
Hatten Sie Gelegenheit, mit den Flüchtlingen zu sprechen?
Man trifft sie überall in der Stadt, an der Bar, oder wenn sie Zigaretten kaufen. Viele wollten auch gar nicht ins Lager, weil sie Angst vor Abschiebung haben. Die meisten sind junge Männer, die ganz entspannt mit den Italienern sprechen.
Was wissen Sie über ihre Fluchtgründe?
Durchweg alle geben als erste Antwort: "Ich komme, um Arbeit zu finden", egal ob in Italien, Frankreich oder Deutschland. Ich sprach zum Beispiel mit einem, der sehr gut Französisch kann. Auf meine Frage, wieso er gerade jetzt flieht, da doch der Diktator gestürzt sei, gab er zurück, richtig frei werde Tunesien womöglich in zehn Jahren sein, so lange aber könne er mit seinen heute 26 Jahren nicht warten. Viele sagen, ich will jetzt erst mal Geld verdienen - und dann in einigen Jahren in ein freies Tunesien zurückkehren.
In Tunesien waren sie arbeitslos?
Viele, mit denen ich reden konnte, haben bis vor Kurzem als Kellner oder Koch in den Hotels Südtunesiens, in Djerba und den anderen Touristenhochburgen gearbeitet. Doch infolge der Unruhen sind diese Hotels jetzt alle geschlossen, ist der Touristenstrom abgebrochen - und die früher in dieser Branche Beschäftigten stehen jetzt auf der Straße.
Wie wird es auf Lampedusa weitergehen?
Wenn der Regierung nicht daran gelegen wäre, künstlich "Notstandssituationen" zu schaffen, dann würde sie sich auf einen starken Flüchtlingsstrom aus Nordafrika vorbereiten, würde sie schon im Vorfeld Schiffe und Flugzeuge für deren Weitertransport organisieren, statt wie bisher ihre Politik auch auf dem Rücken unserer Insel durchzuziehen.
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