Antisemitismus in Frankreich: „Eine permanente Baustelle“
In Frankreich kam es zu schweren Verbrechen gegen Juden. Der Soziologe Michel Wieviorka über den neuen Antisemitismus.
taz: Herr Wieviorka, antijüdische Aggressionen machen Schlagzeilen in Frankreich. Ist der Antisemitismus in Frankreich auf dem Vormarsch?
Michel Wieviorka: Das Phänomen existiert eindeutig, man kann die Zunahme statistisch erfassen. In der jüngeren Vergangenheit haben vor allem die Entführung und Ermordung von Ilan Halimi durch die „Gang der Barbaren“ Aufsehen erregt, die terroristischen Attentate von Mohammed Merah in Toulouse und Montauban sowie der blutige Terroranschlag des Franzosen Mehdi Nemmouche in Brüssel. Dramatisch, auch wenn keine Todesopfer zu beklagen waren, sind danach die Angriffe auf jüdische Geschäfte in Sarcelles und schließlich der kürzliche Überfall auf ein jüdisches Paar in Créteil. In wenigen Jahren gab es sehr schwere und zum Teil mörderische antisemitische Verbrechen. Hinzu kommen aber jedes Jahr Hunderte von weniger schweren Aggressionen, die von den Behörden in Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen registriert werden.
Reden wir von demselben Begriff des Antisemitismus, wenn einerseits islamistische Terroristen gezielt Attentate gegen Juden verüben, wenn in Sarcelles antiisraelische Demonstranten jüdische Geschäfte verwüsten oder diese „Gang der Barbaren“ aus Geldgier einen jüdischen Verkäufer entführt?
Bei der Entführung von Halimi oder beim Überfall von Créteil beschränkt sich die antisemitische Dimension der Verbrechen auf ein rassistisches Vorurteil: „Juden haben Geld“. Der Bandenchef der „Barbaren“, Youssef Fofana, wechselte nach seiner Verhaftung die Rolle, der Vorstadtgangster begann, politische Reden wie ein Dschihadist zu halten. Merah und Nemmouche dagegen handelten von Beginn an aus wirklichem Judenhass, sie wollen Juden töten, weil es Juden sind. Und dann gibt es die dritte Variante des Antisemitismus, der den Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf die französische Gesellschaft projiziert. Dafür wären die Ausschreitungen in Sarcelles ein Beispiel. Die drei Phänomene unterscheiden sich, doch in allen Fällen ist der Jude Zielscheibe der rassistischen Gewalt.
Heute ist der Antisemitismus in Frankreich gerade unter Jugendlichen aus muslimischen Familien verbreitet. Haben diese einfach alte antijüdische Klischees übernommen?
Meiner Beobachtung nach ist das eine permanente Baustelle. Es handelt sich da nicht etwa um eine Fortsetzung einer Familientradition. Es ist mehr eine Produktion als eine Reproduktion.
Zwischen alten Vorurteilen und antisemitischen Klischees scheint aber gerade in der Vorstadtjugend der Banlieue der Übergang zu einem konstruierten politischen Diskurs oft fließend zu sein.
Diese Vorurteile haben tatsächlich eine lange Geschichte, sie wurden weitergereicht, transformiert, angepasst. Mit dem Internet und den sozialen Netzwerken zirkulieren sie unheimlich schnell. Selbst die vom russischen Geheimdienst im 19. Jahrhundert fabrizierten „Protokolle der Weisen von Zion“ findet man auf Arabisch auf unzähligen Blogs und Websites. Wenn in der antisemitischen Propaganda von Israel die Rede ist, was nicht immer der Fall ist, ist nicht immer klar, ob der Ausgangspunkt der Hass auf Israel oder der Hass auf die Juden ist.
Ein Kind zu bekommen, ist keine Krankheit. Tausende Mütter gehen deshalb nicht in eine Klinik, sondern zu einer Hebamme. Ein Beruf, der vielleicht bald verschwindet. Über das älteste Gewerbe der Welt lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. Dezember 2014. Außerdem: Die Schüsse auf den rechten Rabbiner Yehuda Glick zeigen, wie am Tempelberg in Jerusalem derzeit täglich Kriege beginnen können. Die Geschichte eines Anschlags. Und: Endlich Fahrradzeit! Wenn die Kälte klirrt und die Finger am Lenker steif werden, hat man die Straßen endlich für sich. Am Kiosk, //taz.de/%21p4350%3E%3C/a%3E:eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
wurde 1946 in Paris geboren. Er ist Soziologe, arbeitet als Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) und ist Administrator der Fondation Maison des sciences de lhomme. Von 1993 bis 2009 leitete er das von Alain Touraine gegründete Centre danalyse et dintervention sociologiques. Er forscht zu Gewalt, Terrorismus, Rassismus und Antisemitismus. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören die Studie „La tentation antisémite. Haine des juifs dans la France daujourdhui“ (Die antisemitische Versuchung. Judenhass im heutigen Frankreich) sowie das 2014 erschienene Büchlein „Lantisémitisme expliqué aux jeunes“ (Antisemitismus für die Jugend erklärt).
Oft gilt der zeitgenössische Antisemitismus als französische Erfindung, die auf den „Theoretiker“ Edouard Drumont und dessen Buch „La France juive“ zurückgehe. Auch die Zeitung „Le Monde“ sieht im Antisemitismus „eine nur allzu französische Pathologie“. Zu Recht?
Der Antisemitismus ist keine französische Erfindung. Der Begriff wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder Österreich geprägt. Auch finde ich es höchst gefährlich, von einer „Pathologie“ zu sprechen. Das verweist ein politisches und gesellschaftliches Problem in den Bereich der Medizin oder Psychiatrie. Das wäre eine irreführende Erklärung.
Die antisemitische Ideologie, die den Nazis als Grundlage diente, stammt aus dem 19. Jahrhundert, als in Europa die Nationalstaaten entstanden. Wie ist der Zusammenhang mit dem Nationalismus? Muss man befürchten, dass nationalistische Abwehrreflexe gegen die Globalisierung oder Europa erneut einen Nährboden für den Antisemitismus schaffen?
Hüten wir uns vor allzu deterministischen Betrachtungen! Denn erstens ist der Antisemitismus ja viel älter als die europäischen Nationalstaaten. Lange vorher gab es den religiösen Judenhass des Christentums, das die Juden für die Kreuzigung von Jesus verantwortlich machte. Bei der Nationenkonstituierung herrschen allerdings günstige Bedingungen für diverse rassistische Phänomene. Auch hieß es oft, jede Nation müsse ihre Religion haben. Dennoch möchte ich die Bedeutung des Nationalismus für den Antisemitismus nicht überbewerten.
Das Christentum hat eine historische Schuld an der Entstehung des Antisemitismus in Europa. Wie steht es mit dem Islam?
Das ist sehr verschieden. In der islamischen Welt hatten Christen wie Juden stets das Recht zu existieren. Die Differenzen mit dem Islam sind mehr religiöser Natur, sie betreffen die Auslegung der heiligen Schriften oder den Vorwurf an die Juden, nicht konvertieren zu wollen. Traditionell wurden die Juden in der islamischen Welt als Religion toleriert, aber in sozialer Hinsicht wurden sie als „Dhimmi“, als untergeordnete Menschen behandelt. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich mit dem Beginn der Massenkommunikation und mit der Gründung von Israel alles dramatisch verändert.
In Frankreich ist es dem Front National gelungen, das rechtsextreme Gedankengut zu banalisieren, zu dem traditionellerweise auch der Antisemitismus gehörte. Heute schwört Marine Le Pen, das sei passé.
Die Leute, die den FN gegründet haben, waren meistens sehr antisemitisch eingestellt, gerade mit der Annäherung an die Thesen des Holocaustleugners Faurisson hat der FN in Frankreich für den Antisemitismus eine Bresche geschlagen und trägt somit eine enorme historische Verantwortung. Mit Marine Le Pen an der Parteispitze hat sich etwas geändert. Der Antisemitismus existiert weiterhin im FN, steht aber in Konflikt mit der offiziellen Parteilinie. Marine Le Pen will nicht mehr, dass der FN als antisemitisch gilt.
Jean-Paul Sartre hat gesagt, der Antisemitismus sei keine Meinung, sondern eine „Passion criminelle“ (kriminelle Leidenschaft). Wo endet die Meinungsfreiheit?
Wir leben in einer Gesellschaft mit einer Kultur der freien und sofortigen Meinungsäußerung. Für einige Leute nun stellen die Juden eine Barriere für die Verbreitung gewisser Ideen dar. Sie protestieren: „Ich will sagen, was ich will. Die Juden wollen nicht, dass ich im Internet zu den Gaskammern andere Thesen verbreite“ etc. Und schließlich sollen die Juden als ein Hindernis für diese freie Internetkultur und Meinungsäußerung gelten.
Häufig berufen sich Antisemiten auf ihr Recht, Israel zu kritisieren. Und umgekehrt werden Israelgegner als Antisemiten bezeichnet. Wie wollen Sie das Amalgam zwischen Antisemitismus und Antizionismus vermeiden?
Man kann gegen die Siedlungspolitik sein, gegen den Krieg in Gaza, das ist eine Kritik an der Politik. Andere gehen viel weiter und stellen das Recht Israels zu existieren infrage. Ich denke, man muss eine klare Grenzlinie ziehen zwischen der legitimen und demokratischen Kritik an der Politik, die ja auch in Israel selbst zum Ausdruck kommt, und der Forderung, Israel zu vernichten. Bei denjenigen, welche die Existenz Israels infrage stellen, weiß man zudem nicht immer klar, was ausschlaggebend ist. Waren sie zuerst gegen Israel oder waren sie einfach Antisemiten, und Israel wird bloß ein Vorwand für den Judenhass? Viele Juden leben außerhalb von Israel, diese Diaspora ist nicht für die israelische Politik verantwortlich zu machen. Gefährlich ist gerade das Amalgam zwischen Juden der Diaspora und der Existenz von Israel.
In Frankreich hat sich laut dem Jahresbericht der Konsultativen Kommission für die Menschenrechte die Akzeptanz sowohl der Muslime wie der Juden verschlechtert. Wie kommt das zum Ausdruck?
Vor allem in einer gewissen Gleichgültigkeit. Rassistische Angriffe sind in der französischen Gesellschaft banal geworden. Die Leute fühlen sich weniger betroffen. Vor zwanzig Jahren hätten nach einem antisemitischen Überfall wie in Créteil sehr viel mehr Leute auf der Straße demonstriert. Umgekehrt ist der Antisemitismus zwar sehr aggressiv, aber letztlich doch auf bestimmte Sektoren der Gesellschaft beschränkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen