Antisemitismus-Expertin über Coronademos: „Rechtsextreme warten auf Krisen“
Corona-Skeptiker äußern teils erschreckenden Antisemitismus. Saba-Nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank über ein neues altes Phänomen.
taz: Frau Cheema, auf den sogenannten „Hygienedemos“ werden wohl auch dieses Wochenende wieder zahlreiche Menschen gegen das demonstrieren, was von den Corona-Einschränkungen der Bundesregierung noch übrig ist. Zuletzt warnte die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, vor „teils offenem Judenhass“ bei den Protesten. Welche Rolle spielt Antisemitismus unter den Teilnehmenden?
Saba-Nur Cheema: Antisemitismus spielt bei den Protesten eine wichtige, wenn auch nicht immer offene Rolle. Zwar gibt es auch Videos von Demonstrierenden, die auf Nachfrage ganz klar sagen, es seien ‚die Juden‘, die hinter der Coronapandemie stecken. Die Regel ist das aber nicht. Stattdessen äußert sich Antisemitismus oft über Umwege in Chiffren und Codes. Beispielsweise wenn George Soros oder Israel als Urheber des Virus beschuldigt werden. Aber es trifft natürlich nicht auf alle Teilnehmenden zu, dass sie antisemitische Verschwörungsmythen verbreiten.
Viele der Protestler glauben, Bill Gates und die WHO hätten das Coronavirus in die Welt gesetzt. Andere behaupten das Virus existiere überhaupt nicht. Solche Aussagen wirken absurd. Aber sind sie auch antisemitisch?
Nicht jede absurde Behauptung ist gleich antisemitisch. Aber sie alle sind strukturell sehr gut anschlussfähig an antisemitische Weltbilder. Im Antisemitismus steckt die Fantasie, dass Juden hinter den Kulissen als Strippenzieher die Politik und Wirtschaft für den eigenen Profit steuern. Wenn über die Erschaffung einer ‚neuen Weltordnung‘, ‚gray state‘ oder von ‚satanischen Plänen einer Geheimgesellschaft‘ gesprochen wird, ist das ein Nährboden für den Glauben daran, dass ‚die Juden‘ dahinter stecken.
Der Antisemit sieht sich gerade selbst als Opfer, nämlich einer Unterdrückung durch Juden, er glaubt sich in einer Position der Schwäche.
Und was ist mit den Menschen, die bei den Hygienedemos mitlaufen?
Wir wissen, dass die Teilnehmenden nicht homogen sind. Darunter sind auch Menschen, die legitime Kritik an politischen Entscheidungen äußern wollen. Diese müssen sich fragen, ob sie mit Verschwörungsfanatikern, Rechtsextremen und Geschichtsrevisionisten mitlaufen.
Um zu verstehen, warum diese Leute auf die Demos gehen, muss man auch anerkennen, dass wir uns in einer Krisensituation befinden. In solchen Momenten sind Verschwörungsideen sehr attraktiv für viele Menschen.
Es überrascht sie also nicht, dass auf deutschen Straßen gerade so viele Menschen antisemitische Ideen äußern oder zumindest stillschweigend bei anderen Demonstrierenden akzeptieren?
ist pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.
Mich wundert das überhaupt nicht. In Zeiten der Unsicherheit und Angst ist es verständlich, dass Menschen nach einfachen Erklärungen suchen. Komplexe Situationen werden nach einem Gut-Böse-Schema interpretiert. Dass die Reaktion erwartbar war, bedeutet aber nicht, dass sie nicht gefährlich ist.
Droht also die Gefahr, dass sich Antisemitismus durch die Hygienedemos weiter ausbreitet?
Ja. Rechtsextreme warten auf solche krisenhafte Situationen, um ihre Ideologie zu verbreiten und noch weitere Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Das machen sie gerade erfolgreich. Auf den Demos laufen Nazis und Impfgegner*innen genauso mit, wie besorgte Eltern, die einfach nur wollen, dass ihre Kinder wieder in die Kita können.
Gleichzeitig haben aber auch vor Corona schon viele Menschen in Deutschland an Verschwörungsmythen geglaubt. Das betrifft alle Gesellschaftsschichten und Milieus. Wie weit verbreitet solche Einstellungen sind, zeigt etwa die Mitte-Studie von 2019. Ein Drittel der Befragten stimmte damals der Aussage zu, die Regierung enthalte der Bevölkerung ‚die Wahrheit‘ vor.
Die Coronakrise bietet jetzt sozusagen einen Anlass und die Möglichkeit, solche Ideen offener zu äußern. Mich beschäftigt die Frage, ob und wie wir diese nun verbreiteten Ideen in der Postcorona-Zeit aus den Köpfen der Menschen kriegen.
Haben Sie eine Antwort?
Ich glaube, das wird uns noch sehr lange beschäftigen.
Auch historisch waren Seuchen oft mit steigendem Antisemitismus verbunden...
Dass Jüdinnen und Juden Schuld an Krankheiten tragen sollen, ist tatsächlich ein ganz alter Topos. Schon im Mittelalter machte man beispielsweise die jüdische Bevölkerung für die Pest verantwortlich. Der Protest heute greift dieses alte Muster auf.
Auf vielen Videos, die auf den Demos aufgenommen wurden, sind Leute zu sehen, die man eher dem linksesoterischen Spektrum zurechnen würde. Gibt es einen „Hippie“-Antisemitismus?
Wenn man vegan isst, Hippie-Kleidung trägt und barfuß läuft, ist man nicht gleich politisch links zu verorten. Aber auch Menschen, die sich als links verstehen, können antisemitischen Denkmustern verfangen sein. Bei verkürzter Kapitalismuskritik wird etwa schnell von ‚den Rothschilds‘ oder ‚den Rockefellers‘ gesprochen, die als Teil einer globalen Finanzelite zu viel Macht besäßen.
Auch zu den Anschlägen vom 11. September 2001 gibt es krude Theorien, die in linken Kreisen verbreitet sind. Dabei wird die Schuld letztendlich bei Israel sowie Jüdinnen und Juden gesucht.
Ganz besonders offensichtlich wird der Antisemitismus auf den „Hygienedemos“ bei den Demonstrierenden, die sich gelbe Sterne anheften, auf denen „nicht geimpft“ geschrieben steht. Denken diese Menschen wirklich, sie würden verfolgt, wie Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit?
Was in diesen Menschen vorgeht, kann ich nicht beantworten. Das ist in etwa so nah an der Wahrheit, wie die Behauptung, dass Reptiloide unsere Welt beherrschen. Dieser Geschichtsrevisionismus in seiner offensichtlichsten Manifestation ist zwar erschreckend, aber nichts Neues.
Solche Vergleiche kennen wir insbesondere aus der Neuen Rechten. Wenn beispielsweise AfD-Politiker ihre vermeintliche Unterdrückung mit der Verfolgung der Juden vergleichen. Ein bekanntes Muster der Täter-Opfer-Umkehr. Oder, wenn auf Tierrechte-Demonstrationen der Peta von ‚Tier-Holocaust‘ geredet wird. Aktuell geht es aber auch subtiler, wenn beispielsweise der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier von einer ‚Stunde Null‘ nach der Coronakrise schreibt.
Was ist das Problem an dieser Formulierung?
Zum einen knüpft Bouffier an das Mythos der ‚Stunde Null‘ nach 1945 an. Damit negiert er, dass die Bundesrepublik in den Anfangsjahren mit dem Nationalsozialismus vielfach verstrickt war, etwa durch das Fortwirken von Nazis in Schlüsselpositionen in Politik, Justiz und Bildung. Zum anderen werden durch den Vergleich mit der Coronakrise die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlost.
Solche Aussagen sind natürlich wenig hilfreich im Kampf gegen Antisemitismus auf den „Hygienedemos“. Wie sollten Politiker*innen und Gesellschaft mit dem Phänomen umgehen?
Es ist wichtig, dass Politik und Gesellschaft den Strategien der Rechten in dieser Zeit entgegensetzt. Es muss viel Aufklärung betrieben werden und Bildungsangebote für die breite Gesellschaft ermöglicht werden. Die vielen Gegendemonstrationen sind in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig.
In unserer Bildungs- und Beratungsarbeit versuchen wir insbesondere in digitaler Form, möglichst viele Menschen zu erreichen, die sich gerade isoliert oder abgehängt fühlen. Eine Politik, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität fördert, ist langfristig die effektivste Antwort.
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