„Antihero“ aus allen Boxen: Das Lied des Jungen

Der ukrainische Junge stand in einem Elektronik-Laden und hörte sein Lied beim Boxen-Test. Es war der Beginn einer fast wortlosen Begegnung.

Nebeneinander stehende Lautsprecher

Probates Mittel der Kommunikation: Lautsprecher, aus denen Musik kommt Foto: Sandy Kawadkar auf Unsplash

Draußen beginnt der Frühling und drinnen spielt Musik. Ein etwa 14-jähriger Junge im Media Markt in Hamburg-Altona steht versunken vor den tragbaren Bluetooth-Lautsprechern und tippt auf seinem Handy. Aus einem türkisem Lautsprecher hallt ein Lied, gefühlvoll, melancholisch. Es gefällt mir.

„Was ist das für ein Lied“, frage ich ihn. Er schaut mich an und schüttelt den Kopf: „Ukraine“, sagt er, als würde das alles erklären. Seine Mimik ist unbeweglich. Ich zeige auf sein Handy und versuche ihm begreiflich zu machen, dass ich gern wissen würde, wie das Lied heißt, was er spielt.

Er zeigt mir die Anzeige, aber die Schrift ist kyrillisch, ich kann sie nicht in mein Handy eingeben. Der Junge macht mir mit Gesten klar, dass ich eine Musik-App auf meinem Handy öffnen soll. In der Suchmaske tippt er sofort auf die mündliche Diktierfunktion. Es sieht geübt aus, als würde er das häufig machen, um so zwischen kyrillischer Schrift und lateinischer Schrift zu navigieren: „Antihero“, sagt er dann in mein Handy hinein. Seine Stimme klingt brüchig und rau, er scheint im Stimmbruch zu sein.

Sofort spült der Algorithmus „Antihero“ von Taylor Swift mit mehr als 118 Millionen Aufrufen als Ergebnis hoch. Wir schauen beide ratlos auf das Lied. Der Künstler seines Lieds heißt jedoch Elman. Da er hier unbekannter ist und der Liedtitel kyrillisch geschrieben, wird er nicht sofort gelistet. Ich gebe „Elman“ in einer anderen Musikdatenbank ein.

Laut wummert der Song durch die Lautsprecher und beschallt die ganze Abteilung

Dort erscheinen verschiedene Lieder von ihm. Wir vergleichen die kyrillischen Buchstaben mit dem Titel auf dem Handy und finden damit schließlich das Lied. Wir freuen uns. Die Mimik des Jungen bleibt jedoch weiter recht ernst und unbeweglich. Als ich weggehe, nimmt er sofort wieder den Platz am Tisch vor den Boxen ein. Ich merke jetzt, dass ich ihn mit meiner Frage beim Musikhören unterbrochen habe, beim Träumen vor den Boxen.

Etwas später lasse ich mich von einem Mitarbeiter bei den Lautsprechern beraten. Wir koppeln mein Handy an eine Box, um den Sound zu testen. Den Jungen sehe ich jetzt nicht mehr. Er scheint gegangen zu sein. Ich wähle für den Lautsprechertest wieder sein Lied „Antihero“ aus, das gerade noch auf meinem Handy abspielbar ist.

Laut wummert der Song durch die Lautsprecher und beschallt die ganze Abteilung.

Da sehe ich etwas weiter neben uns den Jungen stehen. Er blickt uns an. Neben ihm steht eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, und ein jüngeres Geschwisterkind. Er sagt etwas zu der Frau. Sie lächeln. Drei Menschen, die schüchtern wirken, die sich die Boxen, die hier ausgestellt sind, nur anzuschauen scheinen. Aber was weiß ich in dem Moment schon.

Während ich sie anschaue, denke ich, wer sich durch den russischen Angriffskrieg alles auf die Flucht machen musste. Wer hierhergekommen ist mit einer Geschichte, einem eigenen Musikgeschmack und Träumen, die oft gar nicht so sichtbar werden.

Der Mitarbeiter und ich gehen nun zu anderen Lautsprechern, um sie zu testen. Bei jedem einzelnen lasse ich nun das Lied des Jungen laufen. Ich spüre, dass ich ihm eine Freude machen will. Dass sein Lied hier auch durch das Handy einer Fremden, der er die Musik gezeigt hat, nun bei allen hier drin Gehör findet. Später am Ausgang sehe ich die Familie noch einmal. Wir nicken uns kurz zu.

Zu Hause suche ich wieder nach dem Lied und finde das Musikvideo dazu im Kanal von Atlantic Records Russia. 41 Millionen Aufrufe hat das Video.

Der Künstler ist in Aserbaidschan geboren. Den Jungen scheint die musikalische Nähe des Sängers zu Russland nicht gestört zu haben oder er hat sie nicht beachtet. Ich lasse den Liedtext nun im Internet übersetzen. „Ich bin ein einfacher Antiheld. Du bist gut“, singt der Künstler. Es ist ein Liebeslied.

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Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.

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