Anonymer Krankenschein in Berlin: Keine Angst mehr vorm Arztbesuch
Menschen ohne Papiere trauen sich oft nicht zum Arzt. Initiativen fordern schon lange die Einführung des anonymen Krankenscheins – jetzt soll er kommen.
Wer krank wird in Deutschland, geht zum Arzt: Was wie eine Binsenweisheit klingt, stimmt für viele Menschen nicht. Denn wer ohne Aufenthaltsstatus hier lebt, hat zwar Anspruch auf grundlegende medizinische Leistungen, doch um diesen wahrnehmen zu können, braucht es einen Krankenschein, den die Sozialämter ausstellen – und diese sind gesetzlich verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde weiterzuleiten. Aus Angst, registriert und abgeschoben zu werden, kommt der Arztbesuch deswegen für viele Illegalisierte nicht infrage.
Mindestens 50.000 Menschen leben Schätzungen zufolge ohne Aufenthaltsstatus in Berlin. Ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung soll sich jetzt deutlich verbessern: Wenn am Donnerstag der neue Doppelhaushalt verabschiedet wird (siehe Kasten), ist dort auch der Posten „Clearingstelle für die gesundheitliche Versorgung von nicht krankenversicherten Menschen ohne Regelversorgung/Anonymer Krankenschein“ aufgeführt, eingestellt sind dafür in 2018 und 2019 jeweils 1.500.000 Euro.
Das ist eine kleine Revolution: Seit vielen Jahren setzen sich Initiativen wie das Medibüro, die aus politischer Überzeugung heraus ehrenamtlich Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Aufenthaltsstatus vermitteln, für einen anonymen Krankenschein ein. Die rot-schwarze Koalition hatte diese Maßnahme in ihrem Koalitionsvertrag noch ausdrücklich ausgeschlossen, mittlerweile hat sich der Wind gedreht: Nachdem der anonyme Krankenschein bereits in Niedersachsen und Thüringen in Pilotprojekten erprobt wird, soll er nun auch in Berlin kommen.
„Das ist ein Durchbruch“, sagt der Linken-Abgeordnete Carsten Schatz. „Das Thema hat mittlerweile eine große Priorität, es gab den Willen, finanzielle Spielräume auch zu nutzen“, sagt er. Dabei müssen nicht nur humanitäre Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben: „Das rechnet sich auch für das Gesundheitssystem“, ist Schatz überzeugt. Denn wenn Krankheiten nicht frühzeitig behandelt werden, können sie sich verschlimmern und ausbreiten – Zugang zu gesundheitlicher Versorgung für jeden sei deswegen auch aus ökonomischen Gesichtspunkten heraus richtig.
Medibüro spricht von Erfolg
Auch beim Medibüro spricht man von einem Erfolg. „Dass sich hier nach den vielen Jahren endlich etwas bewegt, sehen wir schon sehr positiv“, sagt Burkhard Bartholome, der sich dort seit mehr als 15 Jahren engagiert. Positiv bewertet das Medibüro auch, dass die Mittel nachträglich noch einmal erhöht wurden: Ursprünglich waren nur 700.000 Euro pro Jahr vorgesehen, was für deutliche Kritik der Initiative gesorgt hatte.
Das Konzept Menschen ohne Papiere mit gesundheitlichen Problemen sollen sich künftig an eine Clearingstelle wenden können, die prüft, ob es reguläre Möglichkeiten gibt, die Behandlung zu bezahlen. Ist das nicht der Fall, wird ein Notfallfonds in Anspruch genommen. Eine Datenübermittlungspflicht gibt es dabei nicht.
Der Haushalt Am Donnerstag soll der neue Doppelhaushalt verabschiedet werden. Hohe Steuereinnahmen haben eine Erhöhung um 460 Millionen Euro ermöglicht. Armutsbekämpfung/Soziale Infrastruktur ist der kleinste von fünf Schwerpunkten. (mgu)
Trotzdem gibt es auch weiterhin Punkte, die die Begeisterung trüben: „Wir finden es nach wie vor nicht richtig, dass überhaupt eine Kostengrenze eingezogen wird“, sagt Bartholome, „denn gerade hier schwanken die Kosten so stark, dass niemand beziffern kann, welche Mittel ausreichend wären.“ Und auch mit einem anonymen Krankenschein bleibe das Prozedere aufwendiger, als es mit einer elektronischen Gesundheitskarte der Fall ist. „Unser eigentliches Ziel ist die Aufnahme in die Regelversorgung, also dass jeder in Deutschland Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung hat“, sagt Bartholome.
Ähnlich sieht es das vor zwei Jahren gegründete Bündnis Solidarity City, in dem sich Menschen mit und ohne Papiere dafür einsetzen, dass alle in Berlin lebenden Menschen Zugang zu sozialer Infrastruktur bekommen. „Wir freuen uns, dass sich bei diesem Thema, für das wir uns intensiv eingesetzt haben, etwas bewegt“, sagt die Bündnissprecherin Antje Dieterich.
Bei der für alle zugänglichen Gesundheitsversorgung gehe es aber nicht nur um finanzielle und formale Fragen: „Wir haben immer auch deutlich gemacht, dass der gesellschaftlich verankerte, strukturelle Rassismus eben auch im Gesundheitssystem präsent ist“, sagt Dieterich. So habe die Initiative festgestellt, dass auch nach Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge weiterhin Hürden bei der Gesundheitsversorgung bestünden: „Auch danach ist der Zugang prekär geblieben“, sagt Pierre Sol (Name geändert), der sich als Geflüchteter im Bündnis engagiert und zu diesem Thema eine Umfrage unter anderen Geflüchteten durchgeführt hat.
„Wir sind mit Rassismus konfrontiert, es gibt immer wieder Probleme wegen der fehlenden Übersetzung – und es gibt keine Instanz, bei der wir uns darüber beschweren können.“ Diese Probleme müssten gemeinsam mit medizinischem Fachpersonal angegangen werden, wenn Gesundheitsversorgung wirklich für alle zugänglich gemacht werden solle.
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