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Angriffe auf Jesiden in NiedersachsenKein besseres Leben gefunden

Im niedersächsischen Northeim sollen zwei Jesiden krankenhausfreif geschlagen und mit vorgehaltener Pistole mit dem Tod bedroht worden sein.

Vom Regen in die Traufe? Jesiden demonstrieren in Berlin Foto: dpa

Bremen taz | Viele Jesid*innen sind vor dem Völkermord aus dem Irak geflohen. Sie sind geflohen vor der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), die die religiöse Minderheit dort im Namen Allahs versklavt, vergewaltigt, gefoltert und getötet hat. Einige Jesid*innen erleiden nun in Deutschland nach ihrer Flucht weiter Diskriminierungen und Übergriffe – jüngst ist das offenbar in der südniedersächsischen Stadt Northeim geschehen.

Der Zentralrat der Jesiden in Deutschland (ZED) machte Anfang der Woche per Pressemitteilung bekannt, dass es in Northeim Übergriffe auf Jesid*innen gegeben haben soll. Der ZED sprach von Angriffen von „fanatischen Islamisten“ und Mitgliedern eines „aus dem Libanon stammenden arabischen Clans“, die zwei Brüder jesidischen Glaubens zunächst krankenhausreif geprügelt und später mit dem Tod bedroht haben sollen.

Die mutmaßlichen Täter hätten laut ZED den Jesiden vorgeworfen, sie seien „Ungläubige“ und nähmen alkoholische Getränke zu sich. Daraufhin hätten sie die beiden Jesiden derart verprügelt, dass sie mit Kopfverletzungen und Nasenbeinbrüchen eine Woche lang im Krankenhaus behandelt werden mussten. Nach dem Angriff seien erneut zehn Männer zu ihnen gekommen, um sie mit vorgehaltener Pistole zu bedrohen: Sie würden sie töten, wenn sie die Polizei einschalteten.

Laut ZED hat eines der mutmaßlichen Opfer mittlerweile aus Angst seine Arbeitsstelle aufgegeben und die Stadt Northeim verlassen. Auch der Zentralrat habe den Opfern empfohlen, zu ihrer Sicherheit in eine andere Stadt zu ziehen. „Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das Opfer geschützt ist und Anzeige erstattet, damit der Staat aktiv wird“, sagt der Vorsitzende des jesidischen Zentralrats, Îrfan Ortac, der taz zu den Übergriffen. Zum Schutz des Opfers habe man einen Umzug empfohlen. „Aber natürlich kann es nicht auf Dauer die Lösung sein, dass man bei Problemen wegzieht“, sagt Ortac.

Die Polizei ermittelt auch gegen die Jesiden

Die Polizei bestätigte, dass es „in der jüngeren Vergangenheit Auseinandersetzungen zwischen jesidischen und arabischen Personen in Northeim gegeben hat“, so ein Pressesprecher. Dazu liefen mehrere Strafverfahren, wohl auch gegen die Jesiden. Weswegen genau, wollte die Polizeipressestelle aber nicht verraten.

Auf erneute Nachfrage bestätigte die Polizei der taz telefonisch weitgehend die Vorgänge, die der Zentralrat der Jesiden geschildert hat. Weitere Details gebe man im laufenden Ermittlungsverfahren allerdings nicht bekannt. Das könnte für Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung – gegen die Jesiden möglicherweise wegen versuchter Körperverletzung – sprechen.

Viele Jesiden, die im Irak verfolgt wurden und hier erneut Gewalt erleben, werden retraumatisiert

Îrfan Ortac, Vorsitzender des jesidischen Zentralrats

Ob die Auseinandersetzung in Northeim islamistisch motiviert war, ist der Polizei gegenwärtig noch nicht bekannt. Zum Hintergrund des Übergriffs werde in alle Richtungen ermittelt, heißt es. Auf Basis der bekannt gewordenen Vorfälle habe die Polizei eine Gefährdungsbewertung vorgenommen, den Beteiligten Verhaltenshinweise erteilt und Maßnahmen ergriffen, um weitere Auseinandersetzungen zu verhindern. Unter anderem fahre man an Wohnsitzen und Treffpunkten der Beteiligten regelmäßig Streife und führe Kontrollen durch.

Nach Einschätzungen des ZED leben in Deutschland bis zu 200.000 Jesid*innen – viele von ihnen in norddeutschen Städten. 13.000 sollen in Hannover und Celle leben, in Oldenburg, Bremen und Delmenhorst noch mal bis zu 8.000 Menschen. Ähnliche Fälle – Angriffe auf Jesid*innen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen Jesid*innen und Muslim*innen – sind aus dem Norden, aber auch aus anderen Bundesländern bekannt. Mehrfach gab es Schlägereien und Bedrohungen in Unterkünften für Geflüchtete.

Im niedersächsischen Innenministerium hat man von all dem offenbar wenig mitbekommen oder will es nicht wissen: Es habe in jüngerer Vergangenheit zwar einen Konflikt zwischen „Personen mit jesidischem und arabischem Hintergrund“ gegeben. Die Bedrohung im konkreten Fall mittels vorgehaltener Pistole oder ein islamistischer Hintergrund von Übergriffen seien jedoch auch nach Rücksprache mit der örtlichen Polizei nicht bekannt, teilt das Innenministerium zwei Tage nach der taz-Anfrage im Widerspruch zur den Auskünften der lokalen Polizei in Northeim mit. Die Vorwürfe des Zentralrates stehen also offen im Raum.

Aussagen über Gewalt gegen Jesiden in der Vergangenheit könne die Behörde nicht treffen: Bei der Erfassung von Hasskriminalität antijesidische Straftaten nicht gesondert registriert. Dem Landeskriminalamt Niedersachsen lägen zudem keine konkreten Erkenntnisse vor, „die eine generelle Erforderlichkeit erhöhter Schutzmaßnahmen für Jesiden in Niedersachsen begründen“, heißt es aus dem Innenministerium von Boris Pistorius (SPD) .

Jesiden werden retraumatisiert

Nach Erkenntnissen des Zentralrats handelt es sich bei den Betroffenen in Northeim um Jesiden aus dem Nordirak, die vor vier Jahren vor dem Völkermord durch den IS nach Deutschland geflohen sind. „Viele Jesiden, die im Irak verfolgt wurden und hier erneut Gewalt erleben, werden retraumatisiert“, sagt Ortac. „Eines der Opfer in Northeim soll gesagt haben: ‚Wir sind aus religiösen Gründen verfolgt worden und geflüchtet. Und jetzt kommen wir nach Deutschland in der Hoffnung auf religiöse Freiheit und werden auch hier verfolgt.‘“

Um wirksam gegen dieses Problem anzugehen, müsse man Rassismus und Extremismus auf verschiedenen Ebenen bekämpfen. „Rassismus kommt nicht nur aus einer Richtung, hat verschiedene Gesichter und Auswirkungen“, sagt Ortac. Man müsse aufklären und gleichzeitig Vielfalt betonen. „Aber man darf auch keine Toleranz für Intoleranz zeigen“, so Ortac mit Blick auf die mutmaßlich islamistischen Täter*innen. Bei dem komplexen Problem gebe es keine Masterlösung. Aber sowohl die Politik als auch die Zivilgesellschaft müsse auf allen Ebenen dazu beisteuern und Vielfalt stärker leben.

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