Angela Merkel als „Person of the Year“: Der Westen als Glaubensfrage
Die Kanzlerin ist zweifellos sehr einflussreich. Dass das „Time Magazine“ sie aufs Cover holt, ist aber noch aus anderen Gründen folgerichtig.
Angela Merkel reiht sich in einen illustren Kreis ein. Adenauer, Stalin, Hitler, der Computer und die „Amerikanischen Frauen“ stehen ihr zur Seite. Überhaupt Frauen. Da auch mal „Protesters“ und „You“, also quasi wir alle vom us-amerikanischen Time Magazine zur „Person of the Year“ ernannt wurden, sind es streng genommen gar nicht so wenige Frauen, wie immer behauptet wird.
Queen Elizabeth II. wurde auch mal „Person of the Year“ und davor, 1936, Wallis Simpson, die letztlich den Weg für die Queen freimachte. König Edward VIII. verzichtete für sie auf den Thron, sein Bruder George, Elizabeths Vater, beerbte ihn. Vielleicht wurde die Hitler-Verehrerin Simpson auch nur deshalb zur Person des Jahres, weil der Führer selber noch nicht mächtig genug war – Titelträger wurde er dann zwei Jahre später.
Aber wieso denn nun Merkel? In den Umfragen zu Hause steht sie schlecht da, ihre großspurige Parole des „Wir schaffen das“ wird vom kaum zu stemmenden Alltag und einem rassistischen Grundkonsens in Deutschland zur Karikatur. Gerade erst musste sie sich von Horst Seehofer beim CSU-Parteitag wie ein Schulmädchen behandeln lassen.
Trotzdem: Merkel, die mächtigste Frau, die zweitmächtigste Politikerin der westlichen Welt, hat in den letzten Monaten mit ihrem scheinbar neuen und plötzlichen Willen, Haltung zu zeigen, viele überrascht. Dabei ist ihr Standpunkt zur Flüchtlingsfrage in seiner Konsequenz fast vorhersehbar. Sie glaubt an den Westen und an dessen Werte. Sie glaubt daran, dass jede und jeder eine Chance auf ein freies Leben in der Marktwirtschaft verdient hat.
Wer sollte das auch besser verstehen als Merkel, die immer sehnsüchtig in den Westen blickte, die ihren Eltern nicht versprechen wollte, nicht doch irgendwann Republikflucht zu begehen und die bis heute über die Jeans aus dem Westen redet, die sie in der Schule nicht tragen durfte.
Merkel glaubt an den Westen, wie es schon lange kaum noch jemand tut. Und sie verbürgt das mit ihrer Biographie. Sie verteidigt die Werte, die Visionen, die Vergangenheit und die Marktwirtschaft, wie es sich schon lange niemand mehr traut. Selbst wenn sie ihre Politik von den reaktionäreren Kräften ihrer Regierung Stück für Stück aushöhlen lässt und aus Pragmatismus immer wieder nachgibt, so ist sie nicht bereit, auch nur einen Schritt von ihrem Glauben an diese westlichen Werte abzuweichen. Vom Time Magazine wurde sie nun zur „Person of the Year“ zur „Chancellor of the free World“ ernannt, weil sie bereit ist, diesen Glauben gegen alles zu verteidigen – gegen ihr Kabinett, genauso wie gegen die eigene Bevölkerung und natürlich Wladimir Putin.
Dabei ist sie nicht erst seit diesem Jahr eine Ikone des Westens, wie er sich selbst gerne sieht. Schon George W. Bush inszenierte Merkel immer als die, die es geschafft hat. Raus aus dem Unrecht, raus aus der Diktatur, endlich in den Westen. Dazu passt ihre Rolle in antiwestlicher Propaganda und konstruierten Feindbildern bei Verschwörungstheoretikern, Antiamerikanern und Putinverstehern. Merkel ist dort noch ein viel stärkeres Symbol für den Westen als Obama und Netanjahu es sind, und die bringen schon traditionsgemäß eine große Horde Feinde mit.
Merkel repräsentiert vieles, was die durchschnittlichen Facebook-Hasser ablehnen: die Emanzipation der Frauen, naturwissenschaftliche Rationalität und einen etwas angestaubten Glauben an die Überlegenheit des Westens.
Davon abgesehen: Da es bei der Wahl der „Person of the Year“ nicht um moralische Fragen geht, sondern um Einfluss oder „impact“ wie es so schön heißt, ist die Wahl der Frau aus der Uckermark durchaus nachvollziehbar. Mazel Tov!
Die Autorin ist für die Amadeu Antonio Stiftung als Fachreferentin für Hate Speech und Redakteurin bei no-nazi.net tätig. Sie betreibt außerdem das Merkel-Blog. Im Februar 2016 wird im Verlag Hoffmann und Campe ihr Buch “Fifty Shades of Merkel“ erscheinen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Geiselübergabe in Gaza
Gruseliges Spektakel
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Russland und USA beharren auf Kriegsschuld des Westens