Andrea Nahles: Die Ministrable
Laut, direkt und glänzend vernetzt – so war ihr Image als SPD-Generalsekretärin. Als Arbeitsministerin darf sie jetzt aufräumen, was ihre Partei verbockt hat.
BERLIN taz | Es gibt da dieses Foto. Andrea Nahles hat es am 17. Dezember auf ihre Facebook-Seite hochgeladen. Sie sitzt in einem Auto und präsentiert ihre gerade ausgehändigte Ernennungsurkunde. „Bundesministerin für Arbeit und Soziales“ steht da, gedruckt auf schwerem Papier, gehalten von einer schwarz-rot-goldenen Kordel, unterzeichnet vom Bundespräsidenten.
Andrea Nahles lächelt ihr breitestes Nahles-Lächeln in die Kamera. Ihre dunklen Augen blitzen hinter der Brille, den rot geschminkten Mund hält sie geschlossen, fehlt nur noch, dass sie vor Freude prustet. Sie ist hochzufrieden in diesem Augenblick. Sie, die Andrea aus der Eifel, hat es geschafft. Ab heute ist sie Ministerin.
Die Frage ist, ob sie das tatsächlich kann: ministrabel sein. Auf ihr Freudenfoto bei Facebook hat sie Hunderte Kommentare bekommen. Genossen gratulierten, andere schrieben fiese Kommentare. „Den Bock zum Gärtner gemacht.“ „Hauptsache, ein Pöstchen!“ Oder nur: „Bah!“
Womöglich war es doch keine gute Idee von Andrea Nahles, ihren persönlichen Moment des Triumphes öffentlich zu machen. Man goutiert derlei nicht in diesem Land. Und man weiß es schon gar nicht zu schätzen, wenn eine mitunter schrille Person wie Andrea Nahles sich so freut. Noch dazu eine Spitzenvertreterin dieser Agenda-2010-SPD. Wenn Parteichef Sigmar Gabriel bei der Bekanntgabe des Mitgliedervotums Tränen in den Augen stehen, menschelt es. Aber Nahles? Zu laut, zu direkt.
Rollenwechsel mit Maria
Tatsächlich muss Andrea Nahles spätestens ab jetzt einen Imagewandel hinkriegen. Als Generalsekretärin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gehörte es quasi zu ihrer Stellenbeschreibung, immer mal wieder hemdsärmelig oder pathetisch rüberzukommen. Den politischen Gegner attackieren, die Basis streicheln, den Parteiapparat mobilisieren.
Privat: Geboren am 20. Juni 1970 in Rheinland-Pfalz. Vater Maurermeister, Mutter Finanzangestellte, ein Bruder. Nach dem Abitur Germanistik- und Politikstudium in Bonn. 2010 Heirat, 2011 Geburt einer Tochter. Nahles ist katholisch, ihre Familie lebt auf einem Bauernhof in der Eifel.
Politisch: Mit 18 Jahren Eintritt in die SPD, 1995 bis 1999 Juso-Bundesvorsitzende. 1997 wird Nahles Mitglied des Parteivorstands, 2003 Präsidiumsmitglied. 1998 bis 2002 Abgeordnete des Bundestags, seit 2005 erneut. 2005 kandidiert sie als Generalsekretärin und überwirft sich deshalb mit Parteichef Franz Müntefering. Nach dessen Rücktritt verzichtet sie auf das Amt. 2007 bis 2009 ist sie stellvertretende SPD-Vorsitzende und Vizefraktionschefin. Nach der verlorenen Wahl 2009 wird Nahles SPD-Generalsekretärin. Seit dem 17. Dezember 2013 ist sie Bundesministerin für Arbeit und Soziales.
Aber nun ist sie Bundesministerin in einer Großen Koalition, Nachfolgerin der schmalen Ursula von der Leyen, der Frau mit den weit aufgerissenen blauen Augen, der blonden Bauschfrisur und den stets frisch gestärkten Hemden. Das macht schon habituell einen Unterschied.
Nahles’ neuer Arbeitsplatz, das Ministerium in der Berliner Wilhelmstraße mit seinem gigantischen 126-Milliarden-Haushalt, ist nicht nur für soziale Segnungen wie die von der SPD widerstrebend akzeptierte Mütterrente zuständig, sondern auch für die Arbeitsmarktpolitik dieses Landes. Deren Erfolg oder Misserfolg drückt sich Monat für Monat in der Bekanntgabe der aktuellen Arbeitsmarktzahlen aus. Verkündet werden sie von der aktuellen Ministerin. Und die heißt neuerdings Andrea Maria Nahles.
Als sie am Dienstagvormittag vor die Presse tritt, ist der Triumph von vor drei Wochen einer neuen Sachlichkeit gewichen. Nahles – sorgfältig frisiert und geschminkt, gekleidet in einen nachtblauen Anzug – trägt gewissenhaft vor, was zu sagen ist. Das übliche Vokabular erfüllt den Raum. Doch wer Nahles kennt, spürt, wie sehr das Neue sie fordert, wie unvertraut sie mit ihrer Rolle noch ist. Sie spricht langsamer als sonst, immer wieder sucht ihr Blick das Manuskript; ihre Hände, mit denen sie im Willy-Brandt-Haus das Gesagte ausschweifend untermalte, bleiben hier auf dem Rednerpult.
Routine für SPD-Essentials
Nahles verklickert die Prozente und Tendenzen, die Werte und Prognosen. Es sind Zahlen, die Auskunft darüber geben, wie es bestellt ist um das Wohlbefinden der Wählerinnen und Wähler, um den sozialen Frieden in diesem Land.
Dabei sind diese Arbeitsmarktdaten lediglich eine Fingerübung für jene Politikerin, der die wichtigsten Prestigeprojekte der SPD an die Hand gegeben wurden. Die abschlagsfreie Rente mit 63 für jene, die 45 Jahre Beitrag gezahlt haben. Der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Befristung von Leiharbeit. Stärkung der Tarifbindung.
Für all das haben sich die Sozis drei Monate lang am Verhandlungstisch stur gestellt und mit der puren Wucht der Masse die Union unter Druck gesetzt. Ohne diese SPD-Essentials, das hatten sie ihren Mitgliedern versprochen, wird es keine Große Koalition geben. Eine Koalition übrigens, die Andrea Nahles selbst vehement abgelehnt hatte. Genau ein Jahr vor ihrer Ernennung zur Ministerin hatte sie der taz gesagt, ja, Opposition „ist Mist, aber Große Koalition ist großer Mist“.
Skepsis – ausgemerzt
Den Sinneswandel von der Rot-Grün-Befürworterin zur Großkoalitionärin hat Andrea Nahles nicht nur selbst vollzogen. Sie hat auch mit dafür gesorgt, dass die Genossen, die mächtig grummelnde Basis, umdenken. Bei den Koalitionsverhandlungen waren Nahles und CDU-Frau von der Leyen die Verhandlungsführerinnen für Arbeit und Soziales. Von der Leyens Strategie des beherzten Wegargumentierens zog bei Nahles einfach nicht; beiden war klar, dass hier Amtsinhaberin und Nachfolgerin am Tisch saßen.
Nahles kann so was: zäh sein, sich unbeliebt machen und dabei lächeln. Anders hätte sie den Job der Generalsekretärin nicht hingekriegt. Im Willy-Brandt-Haus hat sie jahrelang dem unsteten Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel hinterhergeräumt. Der liebte es, dem Mitarbeiterstab Beine zu machen, sich dann aber kaum für die Arbeitsergebnisse zu interessieren.
Die sowohl in der Parteizentrale als auch in der Fraktion glänzend vernetzte Nahles passte auf, dass der Apparat trotzdem lief. Sie umgab sich mit einem engen Mitarbeiterstab. So eng, sagt ein Vertrauter, „dass sie manchmal taub für andere war“. Letztlich hat sie in diesen vier Jahren nicht nur die Generalsekretärin gegeben, sondern auch gleich noch den Job einer – nach wie vor fehlenden – Bundesgeschäftsführerin erledigt.
Erst die Rente, dann der Mindestlohn
Nun also Bundesministerin. Dass Nahles bei der großkoalitionären Postenverteilung ausgerechnet das Arbeitsministerium bekommen hat, ist für die 43-Jährige eine riesige Genugtuung. Nun kann sie eigenhändig die von der SPD durchgesetzte und von ihr stets abgelehnte Rente mit 67 rückgängig machen.
Noch im Januar könnte sie ihre Pläne für das überaus komplexe Rentengesetz vorlegen, damit es am 1. Juli in Kraft treten kann. Ein Mammutprojekt, das die Sozis der Union abgetrotzt haben und das Andrea Nahles so schnell wie möglich durchziehen will.
„Wir beginnen mit der Rente, und dann kommt der Mindestlohn“, sagt sie am Dienstag auf eine entsprechende Journalistenfrage. Schon die ersten drei Wochen haben klargemacht: In dieser Koalition wird kräftig gestritten und intrigiert. Da ist es ratsam, etwas gesellschaftspolitisch so Grundlegendes wie die Rente gleich zu Beginn der Legislatur durchzuziehen.
Mutter mit Spitzenjob
Nahles ist zwar eine erfahrene Sozialpolitikerin, das hat sie in den zwei Jahren gezeigt, in denen sie Sprecherin der Fraktionsarbeitsgruppe Arbeit und Soziales war. Aber für ihr Rentenprojekt braucht sie gute Berater. Einer davon ist Jörg Asmussen. Das einstige Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank ist neuerdings beamteter Staatssekretär in Nahles’ Ministerium. Der 47-Jährige hatte seinen Wechsel nach Berlin unter anderem damit begründet, er wolle künftig mehr Zeit für seine Familie haben.
So gesehen, wird es also wohl nicht nur fachlich zwischen dem Staatssekretär und seiner Ministerin klappen. Nahles hat eine kleine Tochter, das Kind lebt mit dem Vater in einem Dorf in Rheinland-Pfalz. Das Pendeln und Lavieren, das Sich-schuldig-Fühlen und Improvisieren einer Mutter in einem Spitzenjob ist Nahles seit drei Jahren vertraut.
„Wenn ich mit dreißig ein Kind bekommen hätte“, erzählte sie einmal bei einer Wahlkampfveranstaltung für Frauen, „dann wäre ich nicht Generalsekretärin geworden.“ Mit vierzig Jahren wurde sie schließlich Mutter, und alles, was sie tun konnte, war, zu „experimentieren – was geht denn mit so einem Amt?“. Sie arbeite, erzählte sie bei dieser Gelegenheit in ihrem Eifeler Singsang, bis in die Nächte hinein, um am Ende der Woche wenigstens einen Heimarbeitstag zu haben, an dem sie ihre Tochter selbst ins Bett bringen kann. „Ich verstehe, wenn andere Frauen sagen: Dat will ich mir nicht antun.“
Störungen in der Familienzeit
Gleich am Tag ihrer Ernennung hat sie deshalb der Bild-Zeitung ein Interview gegeben. Als neue Arbeitsministerin, sagte sie da, wolle sie sich für familienfreundlichere Arbeitszeiten in Unternehmen einsetzen. „Wir müssen Vollzeit neu definieren“, tönte sie, „mit dem Anwesenheitswahn muss Schluss sein.“ Und das war es dann auch. Andrea Nahles verschwand in die Weihnachtspause zu Mann und Kind.
Als dann zwischen den Jahren CSU-Chef Horst Seehofer das erste Fingerhakeln mit der SPD anfing und Ausnahmen vom Mindestlohn ankündigte, war Andrea Nahles nicht zu sehen. Sie hatte Familienzeit, die Pressestelle ihres Ministeriums gab eine Erklärung heraus. Aber Seehofer schäumte weiter und mit ihm wetterten die Industrie- und Arbeitgeberverbände.
Die Kohlen aus dem Feuer holte schließlich der neue Vizekanzler Sigmar Gabriel, der empfahl, doch einfach mal gründlich den Koalitionsvertrag zu lesen. Auch Gabriel hat eine kleine Tochter, sie ist zwei Jahre alt. Und auch er war in der Weihnachtspause. Gut möglich, dass Andrea Nahles sich Störungen ihrer Familienzeit künftig weit öfter antun muss.
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