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Analyse zu Protesten in Serbien„Das Regime verfault von innen“

Dem serbischen Präsidenten Vučić entgleitet die Kontrolle zusehends, sagt der Politologe Srđan Cvijić. Er fordert auch mehr Druck von der EU.

Unter Druck: Alexander Vučić hier beim Treffen mit der EU und den westlichen Balkanländern in Brüssel im Dezember 2024 Foto: Martin Bertrand/imago
Florian Bayer
Interview von Florian Bayer

taz: Rund eine halbe Million Menschen gingen letzten Samstag gegen Aleksandar Vučić auf die Straße. Wie sehr steht er unter Druck?

Cvijić: Die Proteste sind absolut bedrohlich für ihn – es war die größte Versammlung in der Geschichte Serbiens. Das Regime ist in die Ecke gedrängt, seine Unterstützung nimmt rapide ab und es hat die politische Legitimität vollständig verloren. Selbst Androhungen von Gewalt haben nicht funktioniert.

Im Interview: Srđan Cvijić

ist ein serbischer Politikwissenschaftler und derzeit Präsident des Internationalen Beratungsausschusses des Belgrade Centre for Security Policy (BCSP). Zuvor war er Senior Policy Analyst am Open Society European Policy Institute in Brüssel, wo er sich mit den Außenbeziehungen der EU, Menschenrechten und internationalen Rechtsfragen beschäftigte. Seine Arbeit umfasst auch die Themen EU-Erweiterung, Demokratisierung sowie Sicherheitspolitik in den Westbalkanländern, der Türkei, dem Nahen Osten und Nordafrika. Er war außerdem als Diplomat für Serbien tätig und arbeitete unter anderem für die NATO-Parlamentarische Versammlung, das European Policy Centre und den Stabilitätspakt für Südosteuropa.

taz: Es gibt Videos und Berichte, dass Schallwaffen zum Einsatz kamen.

Cvijić: Höchstwahrscheinlich wurde eine solche Waffe eingesetzt, und zwar ausgerechnet während der Schweigeminute für die 15 Toten der Tragödie von Novi Sad, die den Auslöser für die aktuellen Proteste darstellte. Die Regierung bestreitet den Einsatz so einer Waffe, obwohl viele Beamte von Vučićs Partei ihn zunächst bejubelt haben. Nur die Reaktion des studentischen Sicherheitsdienstes verhinderte eine Massenpanik mit möglichen Todesopfern.

taz: Schon 2023 wurde gegen eine Massenschießerei an einer Grundschule demonstriert, Anfang 2024 gegen gefälschte Wahlen. Was ist diesmal anders?

Cvijić: Nach mehr als zehn Jahren eines vereinnahmten Staates ohne unabhängige Institutionen, freie Wahlen und freie Medien reicht es den Menschen. Der einzige Weg, Dissens zu äußern, besteht darin, auf die Straße zu gehen. Wenn man die Geschichte Serbiens betrachtet, hat das serbische Volk eine große Toleranz gegenüber autoritären Führern, aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Und jetzt ist es so weit.

taz: Präsident Vučić hat schon einige Zugeständnisse gemacht, nun tritt auch Ministerpräsident Miloš Vučević zurück.

Cvijić: Vučević ist ein Feigenblattpremierminister, der durch fast jeden anderen ersetzt werden könnte. Klar ist aber: Präsident Vučić kontrolliert die Situation nicht mehr. Was er tut, ist, seine Macht zu verteidigen. Es ist ein sehr gefährlicher Moment. Es bräuchte wahrscheinlich auch eine Stimme aus dem Ausland, die Vučić mitteilt, dass er einen echten institutionellen Dialog mit den Oppositionskräften beginnen muss. Es braucht eine Übergangsregierung, die den Weg für faire und freie Wahlen ebnet. Das ist der einzige friedliche Ausweg – sonst wird Vučić letztendlich verlieren, was auch immer er tut.

taz: Wenn Sie von Druck von außen sprechen, meinen Sie die EU?

Cvijić: Ganz genau. Die EU müsste mit einer einzigen Stimme reagieren, nicht nur ihr Erweiterungskommissar, auch wenn dieser sich zuletzt für demokratische Grundrechte ausgesprochen hat. Auch die Führung von Kommission und Rat sowie die Mitgliedsstaaten müssten der serbischen Führung Vernunft einflößen.

taz: Welche Art von Druck könnte ausgeübt werden? Wären die brachliegenden Beitrittsgespräche ein Hebel?

Cvijić: Das wäre eine Möglichkeit, aber die protestierende Bevölkerung würde das nicht zufriedenstellen, weil die EU-Mitgliedschaft derzeit kein Thema ist. Der Hebel müsste eher bei den transnationalen Abkommen mit EU-Mitgliedstaaten ansetzen. Wenn diese wegfallen, wird klar, dass die serbische Führung das Land nicht mehr kontrolliert. Letztendlich wird aber keine externe Kraft die Situation lösen, sondern die Veränderung muss von innen kommen.

taz: Wie könnten die Proteste weitergehen? Kann der Druck aufrechterhalten werden?

Cvijić: Mittlerweile kann keine Kommunalversammlung in ganz Serbien mehr ohne Polizeischutz abgehalten werden. Das Regime verfault von innen und hat keinerlei politische Legitimität mehr. Der Wendepunkt ist überschritten, diese Proteste werden nicht abflauen. Das Regime weiß das inzwischen und wird versuchen, Gewalt einzusetzen.

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2 Kommentare

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  • Im Jahr 2010, also noch vor Alexander Vucics Regierungszeit, machten mehrere EU-Universitäten im Rahmen von EU-Projekten im Bereich Zivilgesellschaft sogenannte Demokratieumweltanalysen zu Serbien. Dabei ging es um Pressefreiheit, aber auch Rechtssicherheit gegenüber der Verwaltung, Gewaltenteilung, Bürgerrechte, wie Klagerechte von Journalisten gegenüber Behörden und deren Auskunftspflichten. Man muss sich das als Mix von Freedom House und Reporter ohne Grenzen vorstellen.

    Heraus kam schon damals ein sogenanntes defektes Mediensystem, eine gelenkte Presse, die Staatsmedien bevorzugte, die selbstverständlich nicht unabhängig waren und eine TV-Landschaft unter der Verfügungsgewalt der Regierung plus TV-Kanäle für der Regierung nahestehende Oligarchen. Das war Vucics Anfangszeit.







    Dass eine derartig eingeschränkte Pressefreiheit dringend nötige Diskurse unterdrückt, liegt auf der Hand. Dies merkten die Kollegen daran, dass die serbischen Wissenschaftler alle sehr EU-affin waren, aber in Sachen serbischer Nationalismus und Aufarbeitung der Milosevic-Diktatur dicht machten.

    Wenn jetzt nach 15 Jahren die Protestierenden diese Defizite erkannt haben, muss die EU sich einmischen.

  • Wirtschaftliche Interessen beim Lithium werden die EU-Entscheidungen limitieren und lenken.

    www.boell.de/de/20...nd-deutschland-von

    Die Nähe Serbiens zu Moskau und somit Putin ist ein Menetekel für eine Intervention auf unsicherer Grundlage.



    Ein ruhiger friedlicher Balkan, das war nur eine kurze Episode.