Amri-Untersuchungsausschuss in Berlin: Viel zu viele tödliche Fehler
Der Ausschuss legt nach vier Jahren seinen Abschlussbericht vor. Er listet detailliert die Pannen der Ermittlungsbehörden auf.
Einig sind sich die Vertreter der Fraktionen (in diesem Fall ausschließlich Männer) vor allem in zwei Punkten: Es gab nicht den einen großen Fehler, der letztlich zum Attentat mit zwölf Toten führte, sondern eine ganze Reihe von Pannen, fehlenden Absprachen, Fehleinschätzungen und Kompetenzgerangel zwischen den Sicherheitsbehörden. „Wir haben zahlreiche Fehler festgestellt“, sagt der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU). „Die Summe dieser Fehler und Versäumnisse hat den Anschlag zumindest begünstigt.“
Auch hätten sich danach besonders im stark kritisierten Landeskriminalamt (LKA) viele Strukturen verändert, dies würde einen solchen Anschlag inzwischen deutlich weniger wahrscheinlich machen. Man habe rund 600 zusätzliche Stellen geschaffen – die meisten im Staatsschutz zur Terrorabwehr. Dennoch sagt Lenz: „Eine absolute Sicherheit, dass es so einen Anschlag nie wieder geben wird, werden wir nicht erreichen können.“
Anis Amri war am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen absichtlich in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren. Dabei starben elf Menschen, rund 70 wurden zum Teil schwer verletzt; den Fahrer des Lkw hatte Amri zuvor getötet. Er selbst wurde wenige Tage später auf der Flucht in Italien erschossen.
Der Anschlag in Berlin kam für Experten nach den Attentaten in anderen europäischen Großstädten wenig überraschend. Kurz danach stellte sich jedoch heraus, dass Amri den deutschen Ermittlungsbehörden kein Unbekannter war. Er galt als islamistischer Gefährder, also potenzieller Gewalttäter, und war von mehreren Polizeibehörden überwacht worden – bis das Berliner LKA im Juni 2016 die Observation abbrach. Warum das genau geschah, war eine von 95 Leitfragen des Ausschusses.
Islamisten schauen keine Pornos?
Im Kern war die Berliner Polizei damals zu dem Schluss gekommen, dass Amri, weil er Drogen nahm, damit handelte und auch Pornos anschaute, kein Islamist mehr sein könne. „Diese Fehleinschätzung erklärt vieles“, betont Lenz. Darüber hinaus sei die Behörde aufgrund der akuten Terrorgefahr überlastet und personell mangelhaft ausgestattet gewesen. Es fehlte der Austausch an Informationen mit Sicherheitsbehörden des Bundes und Nordrhein-Westfalens, wo Amri sich ebenfalls lange aufhielt, und auch der Blick in die islamistische Szene sei getrübt gewesen. „Das LKA hatte keinen Überblick, welche Gefährder sich in Berlin aufhielten.“
In der Folge sei auch das Verbot der Fussilet-Moschee in Moabit, lang bekannter Treffpunkt von Extremisten, von der Innenverwaltung nicht schnell genug vorangetrieben worden, sagte Lenz. Verantwortlich dafür war der damalige CDU-Innensenator Frank Henkel.
Henkel war im Nachhinein vorgeworfen worden, er habe – politisch motiviert – eine größere Priorität auf die Überwachung der linken Szene gelegt und entsprechend Kräfte für die Beobachtung von Hausprojekten in der Rigaer Straße und konkret der Kneipe „Kadterschmiede“ abgezogen, die er räumen lassen wollte – vergeblich. Der Untersuchungsausschuss kam hier nicht zu einer zu gemeinsamen Einschätzung.
Laut Frank Zimmermann (SPD) lässt sich der Vorwurf durch die Arbeit des Ausschusses nicht belegen. Amri habe damals beim LKA nicht als der gefährlichste Gefährder gegolten; er wäre wohl selbst mit mehr verfügbarem Personal kaum überwacht worden. Benedikt Lux (Grüne) widerspricht: Der Vorwurf liege nicht fern, schließlich handle es sich um eine „erstaunliche Koinzidenz“.
Niklas Schrader, Linke
Dissens herrscht auch in einem weiteren zentralen Punkt: War Amri ein Einzeltäter oder bestand ein Netzwerk? Eher Ersteres, sagt Zimmermann. „Natürlich hatte Amri Mentoren und traf andere Salafisten, aber es war keine gemeinsame Tat.“ Der linke Innenexperte Niklas Schrader stellt das in Frage: „Es fehlt die Bereitschaft, Amris Netzwerk zu untersuchen.“
Überhaupt ist Schrader nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Zahlreiche Fragen seien weiter offen, viele teilweise per Telefonüberwachung gesammelte Daten nicht oder mangelhaft ausgewertet, manche Akten nicht zugänglich. „Auch wir konnten nicht abschließend klären, warum die Observation von Amri eingestellt wurde.“
Kritik äußert auch Astrid Passin, deren Vater bei dem Anschlag starb, und die als Vertreterin der Opfer und Hinterbliebenen den Ausschuss begleitete. Zwar lobt sie dessen Aufklärungswillen, sagt aber auch: „Wir haben Vertrauen verloren.“ Die Untersuchung des Anschlags müsse weitergehen.
Eine eventuelle erneute Einsetzung des Untersuchungsausschusses in der nächsten Legislaturperiode halten aber sowohl Lenz wie Zimmermann für unnötig. „Unsere Arbeit wurde nicht behindert, wir haben alle Akten bekommen“, sagt der SPD-Politiker. „Wir müssen vielmehr kontrollieren, ob unsere Erkenntnisse zur Verbesserung auch umgesetzt werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“