Linken-Politiker zu Amri-Ausschuss: „Nichts aus dem Versagen gelernt“

Der linke Innenexperte Niklas Schrader ist Mitglied des Amri-Untersuchungsausschusses. Viele Fragen zur Terrortat und zu Anis Amri seien noch offen.

Mahnmal Goldener Riss am Breitscheidplatz

Der Riss: Seit 2018 markiert dieses Mahnmal am Breitscheidplatz das Gedenken an die Toten Foto: dpa

taz: Herr Schrader, vier Jahre lang hat der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses versucht zu klären, warum Anis Amri im Dezember 2016 den Anschlag auf dem Breitscheitplatz begehen konnte, obwohl er zuvor im Visier mehrerer deutscher Sicherheitsorgane war. War die Arbeit des Ausschusses erfolgreich: Ist alles geklärt?

Niklas Schrader: Es sind trotz unserer intensiven Arbeit leider viele Fragen offen geblieben – insbesondere, ob hinter Anis Amri ein Netzwerk radikaler Islamisten gestanden und ob er den Anschlag wirklich alleine begangen hat. Dennoch würde ich den Ausschuss als erfolgreich bezeichnen: Er hat sehr viel aufgearbeitet und sehr viele Defizite in den Sicherheitsbehörden benannt.

Hat er neue Erkenntnisse hervorgebracht über diesen bislang folgenreichsten islamistisch motivierten Anschlag in Deutschland mit 12 Toten und fast 70 teils schwer Verletzten?

Er hat zumindest wesentlich beigetragen zu der großen Debatte über polizeiliche Befugnisse, mögliche neue Instrumente und Einschränkungen der Grundrechte, die nach dem Anschlag aufkam.

(39) ist innenpolitischer Sprecher der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus

Inwiefern?

Wir haben ganz deutlich herausgearbeitet, dass die bestehenden Befugnisse und Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden nicht genutzt und nicht ausgeschöpft wurden. Schon mit den vorhandenen Instrumenten hätte die Polizei besser ermitteln können.

Ihre Fraktion hat ein Sondervotum abgegeben, also eine vom einstimmig verabschiedeten Bericht abweichende Position in einigen Punkten. Darin widersprechen Sie zum Beispiel der These, dass insbesondere Überlastung und Personalnot bei der Polizei zu den wenig erfolgreichen Ermittlungen geführt hat. Aber es stimmt doch: Das LKA in Berlin war stark unterbesetzt.

Für einige Bereiche stimmt das. Aber es gibt Beispiele, da hätte man auch mit dem damaligen Personalbestand Informationen, die ja erhoben worden sind, besser auswerten und damit weiter ermitteln können. Und trotz der schwierigen personellen Situation hatte ein führender Beamter im Staatsschutz noch Zeit, bezahlten Nebentätigkeiten in größerem Umfang nachzugehen.

Ist die mangelhafte Auswertung von Daten nicht gerade ein Beleg für mangelnde personelle Ausstattung?

Teilweise schon. Aber noch mal: Man hätte mehr machen können. Es gab ja auch die von der Staatsanwaltschaft angeordneten Observationen, die dann einfach endeten, und wir können uns nicht erklären, warum. Die Sicherheitsbehörden hätten ein korrekteres Bild über Amris Gefährlichkeit und über seine Einbettung in ein dschihadistisches Netzwerk bekommen und ihn damit ganz anders einschätzen können – trotz seiner Aktivitäten im Drogenhandel.

So etwas sagt sich im Nachhinein immer leicht.

Klar. Aber wir untersuchen natürlich im Nachhinein, um genau die Defizite zu benennen, die dann behoben werden können. Übrigens geht es auch um eine Frage der politischen Prioritäten.

Sie spielen darauf an, dass im Juni 2016, also kurz vor der Abgeordnetenhauswahl, der damalige Innensenator Frank Henkel ein Augenmerk vor allem auf die linke Szene legte.

Unter anderem. Es gibt sehr viele Indizien dafür, dass die Prioritäten insbesondere Mitte 2016, also kurz vor der Abgeordnetenhauswahl, falsch gesetzt wurden. Wir konnten feststellen, dass, just als Amri vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwand, plötzlich eine sehr hohe Priorität auf dem Bereich Linksextremismus lag. Und da drängt sich der Verdacht auf, dass dort politische Einflussnahme stattgefunden hat, die sich eher an Schlagzeilen in der Presse orientiert hat als an der tatsächlichen Gefährlichkeit von observierten Personen.

Der Anschlag Am 19. Dezember 2016, kurz nach 20 Uhr, steuerte Anis Amri einen gestohlenen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Dabei kamen 12 Menschen um, rund 70 wurden schwer verletzt. Es war das bislang schwerste islamistisch motivierte Attentat in Deutschland. Überraschend kam es für Ex­per­t*in­nen nach den Anschlägen in vielen europäischen Städten wie Nizza, London oder Brüssel allerdings nicht. Innensenator Andreas Geisel war zur Zeit des Anschlags am Breitscheidplatz noch keine zwei Wochen im Amt. Er sagte später dazu zur taz: „An dem Abend bin ich in das Amt katapultiert worden.“

Der Ausschuss Im Juni 2017 nahm der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses seine Arbeit auf. In den folgenden vier Jahren befragte er rund 100 Zeugen und sichtete mehrere Terabyte Akten, zusätzlich zu den Hunderten analogen Aktenordnern. Am Montag vergangener Woche stellte der Ausschuss seinen Abschlussbericht vor. Er hat mehr als 1.200 Seiten, vier Fraktionen haben Sondervoten abgegeben. Die beiden Hauptaussagen des Berichts: Es gab nicht den einen Fehler, weswegen Amri, der zuvor im Visier mehrerer Sicherheitsbehörden war, nicht gestoppt werden konnte, sondern eine ganze Reihe von Fehlern, Fehleinschätzungen und Pannen. Zum anderen sind viele vom Ausschuss herausgearbeiteten strukturellen und kommunikativen Probleme in den Ländern und dem Bund angegangen worden. (bis)

Die Mitglieder des Ausschusses haben eine kaum zu überblickende Menge an Akten von verschiedenen Behörden ausgewertet. Hatten Sie das Gefühl, dass die Behörden die Arbeit des Untersuchungsausschuss wirklich unterstützt haben?

Nicht immer. Wir haben eine Flut an Akten erhalten. Aber wir mussten auch immer wieder an Stellen, wo es für die Sicherheitsbehörden unangenehm werden kann, zäh um die Unterlagen ringen oder gegen umfassende Schwärzungen kämpfen.

Frank Zimmermann, SPD-Mitglied im Ausschuss, hat am Montag erklärt, der Ausschuss habe alle Unterlagen bekommen, die er wollte. Sie kritisieren hingegen in dem Sondervotum, dass viele Akten eben nicht vorlagen. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

Wir Linke wollten mehr; wir wollten vor allem den Einsatz von V-Personen kritischer und grundsätzlicher bewerten. Andere Fraktionen haben sich früher mit dem herausgegeben Material zufrieden gegeben. Es war oft wirklich schwierig: So sind Monate nach dem Anschlag beim Berliner Verfassungsschutz Fotos aufgetaucht, die Anis Amri zeigen. Von sich aus hat der Verfassungsschutz die uns nicht gezeigt, er hat uns nicht mal darüber informiert. Das ist bewusstes Mauern, der Verfassungsschutz behinderte die Aufklärung aktiv. Bekannt wurde die Existenz solcher Unterlagen oft nur durch investigativen Journalismus oder durch die anderen Untersuchungsausschüsse zu Amri im Bundestag und in Nordrhein-Westfalen.

Der Verfassungsschutz, auch der Berliner, war schon wegen des Versagens bei Ermittlungen zur rechtsextremen Terrorzelle NSU vor zehn Jahren stark in der Kritik. Zeigen die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses im Fall Amri, dass man aus diesen Fehlern gelernt hat?

Im Grunde entsprach das Verhalten einem ganz ähnlichen Muster: Erst wird gesagt, wir haben damit nichts zu tun. Dann stellt sich heraus, der Verfassungsschutz – im Bund und in Berlin – hatte da einen tiefen Einblick. Und am Ende behindert der sogenannte Quellen- und Methodenschutz die Aufklärung. Es wurde also nichts aus dem Versagen beim NSU gelernt.

Laut dem Fazit am Montag bei der Vorstellung des Berichts hat hingegen das Berliner Landeskriminalamt (LKA) inzwischen viele Verbesserungen umgesetzt: Es gibt neben mehr Personal auch andere Strukturen. Ist die Berliner Polizei auf dem richtigen Weg?

Teilweise kann man das wirklich sagen. Die in einigen Bereichen schlechte Personal- und Sachausstattung wurde verbessert. Die Koalition hat das Asog …

das Allgemeine Sicherheits und Ordnungsgesetz…

… geändert. Und da haben wir dem auch von der SPD aufgebauten Druck widerstanden, alle möglichen neuen Befugnisse reinzuschreiben. Wir haben nicht aufgerüstet. Was interne Abläufe beim LKA angeht, muss man bei der Bewertung noch abwarten, ob Dokumentation, Kontrolle und Fachaufsicht wirklich und auch nachhaltig verbessert wurden. Denn das ist bitter nötig.

Auch die Linksfraktion hat die in dieser Legislatur von Rot-Rot-Grün geschaffenen rund 600 zusätzlichen Stellen für die Polizei, vor allem für die Terrorabwehr, positiv bewertet. Wie passt das zusammen mit der grundsätzlichen Aussage, der Fall Amri sei kein Argument, die Sicherheitsbehörden aufzurüsten?

Wo die Arbeitssituation prekär ist, wo Überstunden angehäuft werden, ist es natürlich gerechtfertigt, die Personalsituation zu verbessern. Das widerspricht sich nicht, das ist auch keine Aufrüstung. Ich warne bloß davor, zu denken, man könnte allein mit einer Verbesserung der Personalsituation in allen Bereichen auch bessere Ergebnisse erzielen. Dafür braucht es mehr.

In dem Abschlussbericht heißt es, es sei unklar, ob Amri ein sehr intelligenter Mensch war oder eben nicht.

Zumindest kann man sagen, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt wusste, dass die Ermittlungsbehörden hinter ihm her sind. Ob er aber bewusst sein Verhalten geändert und mit Drogen gehandelt hat, um die Behörden von seiner Spur abzubringen, dafür gibt es keine Beweise. Aber er hat versucht, seine Pläne und auch seine Einstellung zu verbergen und sich dementsprechend verhalten.

Gibt es neue Erkenntnisse, ob noch ein weiterer Attentäter am 19. Dezember mit ihm im Lkw saß?

Es gibt verschiedene Indizien und offene Fragen in dieser Hinsicht. Amri traf bis zuletzt Kontaktpersonen aus der salafistischen Szene, sodass wir zumindest von Mitwissern ausgehen. Es gibt auch DNA-Spuren im Lkw-Führerhaus, deren Herkunft bisher nicht geklärt wurde. Es gab vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern den Hinweis, dass Amri möglicherweise Fluchthelfer aus Berlin hatte. Es gibt also Indizien dafür, dass zumindest bei der Vorbereitung und vielleicht auch bei der Flucht ein Netzwerk Amri geholfen hat. Der Ball liegt, nachdem die Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit beendet haben, jetzt aber bei der Generalbundesanwaltschaft.

Haben Sie Hoffnung, dass dort konsequent ermittelt wird?

Vorsichtig gesagt: Die Erfahrung mit dem NSU zeigt, dass dort eher weniger die Neigung besteht, breitere Netzwerke zu ermitteln.

Derzeit sollen sich laut der Polizei eine hohe zweistellige Zahl islamistischer Gefährder in Berlin aufhalten. Wird mit denen anders umgegangen als mit Amri?

Die Behörden sind etwas besser aufgestellt. Aber vollständig unter Kontrolle wird man diesen Personenkreis nie bekommen, das muss auch klar sein. Diese Personen sind meist auch keine straffällig gewordenen Personen, man hat nur Verdachtsmomente und Indizien. Die Einteilung als Gefährder ist immer eine unsichere Sache: Man kann nicht seriös bewerten, ob die Gefahr durch Islamismus derzeit höher oder geringer ist.

War nicht eine Folge aus dem Attentat, den Begriff Gefährder präziser zu fassen?

Dafür gibt es konkretere Konzepte, und man kann davon ausgehen, dass sich Islamismus und Kleinkriminalität und auch Drogenhandel nicht ausschließen. Aber das hätte man schon 2016 wissen können.

Was hat es mit Ihnen gemacht, sich so intensiv mit einer Person wie Amri zu beschäftigen?

Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass es ein Anschlag war, bei dem Menschen ums Leben kamen. Man muss sich die menschlichen Schicksale immer wieder ins Bewusstsein rufen. Man vertieft sich manchmal so sehr in die Akten und Vorgänge, dass man fast zu rational an diese Arbeit geht. Andererseits: Jemand muss diese Arbeit, diese akribische Aufarbeitung machen. Und ich finde, das war es auch wert. Vielleicht gibt es ja auch in der nächsten Legislaturperiode einen Untersuchungsausschuss.

Zu Amri?

Nein. Da sind zwar noch viele Fragen offen, doch das reicht wohl nicht zu einem erneuten Untersuchungsschuss. Aber wir fordern ja schon lange einen solchen Ausschuss zur Terrorserie in Neukölln und den entsprechenden Missständen in den Ermittlungsbehörden. Dafür gibt es jetzt auch aus anderen Parteien Unterstützung. Und es gibt ja Fragen, die sich in dem einen wie dem anderen Komplex stellen.

Etwa nachrichtendienstliche Erkenntnisse?

Genau. Wir müssen untersuchen, wie der polizeiliche Staatsschutz in diesem Bereich arbeitet, wo es mögliche Defizite oder Datenlecks gibt und was bei der Aufklärung hinderlich ist.

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