Amnestie: „Ein russisch-sowjetisches System“
„Ich hatte kaum mehr geglaubt, dass ich den Tag noch erlebe“, sagt die grüne Osteuropa-Politikerin Marieluise Beck. Seit Jahren hält sie engen Kontakt zu Michail Chodorkowski. Am zweiten Tag nach seiner Freilassung, als die Fernsehjournalisten vor dem Hotel Adlon warteten, traf sie sich mit ihm.
taz: Frau Beck, seit wann kennen Sie Michail Chodorkowski?
Persönlich seit Samstagnachmittag 15 Uhr. Ich könnte auch sagen: Seit acht Jahren, und zwar über Juri Schmidt, den Menschenrechts-Vertreter und Anwalt von Michail Chodorkowski. Ich habe seit diesen Jahren eine tiefe menschliche Verbindung mit Juri Schmidt, und der war Chodorkowskis engster Begleiter.
Russlands Präsident Putin hat ihn begnadigt – nach 10 Jahren Haft im Arbeitslager. Ist Chodorkowski nicht ein gebrochener Mann?
Nein, in keiner Weise. Er ist überaus gut sortiert im Kopf, besonnen, ohne einen Anflug von Rachegefühlen. Er war in verschiedenen Lagern, er ist im Büro eingesetzt gewesen.
Die Welt rätselt jetzt, was Chodorkowskis Pläne nun sind.
Wir haben über Pläne schon in unserer Korrespondenz vorher gesprochen.
Marieluise Beck
61, ist Bremens Bundestagsabgeordnete der Grünen und deren Fraktionssprecherin für Osteuropapolitik. Seit 2005 ist sie Mitglied des Auswärtigen Ausschusses mit den Schwerpunkten Ost- und Südosteuropa.
Man konnte mit ihm ins Arbeitslager korrespondieren?
Natürlich. Wir hatten einen Austausch über Zukunftsfragen, und dazu gehören regenerative Energien. Das ist für ihn ein überaus spannendes Feld. Man konnte direkt kommunizieren, ich habe aber auch Briefe über die Anwälte hineinschmuggeln lassen.
Er wird im Westen jetzt zum Hoffnungsträger.
Davon bin ich nicht überzeugt. Die Möglichkeiten, politisch zu arbeiten, ergeben sich nicht so einfach. Was sich als sinngebende Tätigkeit für einen Mann, der ein solches Schicksal hat, ergibt, das ist 48 Stunden nach seiner Freilassung nicht absehbar.
Ist er denn noch Milliardär oder komplett enteignet?
Ich habe diese Frage nie gestellt. Sein Jukos-Ölkonzern ist zerschlagen, aber Chodorkowski betont, dass er zu der Zeit der Zerschlagung keine Aktien mehr gehalten hat. Sicherlich gibt es ein kleines Vermögen. Chodorkowski ist ja sehendes Auges nach Moskau zurückgekehrt, als sein Partner Leonidowitsch Lebedew schon in Haft saß. Er hat nicht geglaubt, dass Putin es wagt, ihn in Haft zu bringen.
Putin hat soviel Macht wie die Zaren nicht.
Das ist nach wie vor ein russisch-sowjetisches System. Zwar kann auch bei uns ein Bundespräsident einem Gnadengesuch stattgeben, aber nicht, wenn die Staatsanwaltschaft gerade bekannt gegeben hat, dass sie neu ermittelt.
Was bewegt Putin?
Putin will seine Macht konsolidieren für sich selbst und seine Nomenklatura, das sind die versammelte Ex-KGB-Genossen aus der St. Petersburger Datschen-Siedlung, die derzeit in Amt und Würden sind. Er ist der Pate, der für die Sicherheit und natürlich auch das Einkommen dieser Menschen sorgen muss. Sein politischer Plan ist die Wiedererrichtung des russischen Imperiums, wie es sich im Verhältnis zur Ukraine besonders zeigt.
Dennoch ist er empfänglich für internationalen Druck.
In wenigen Wochen findet das große olympische Festival in Sotschi statt. Die internationale Präsenz begann zu bröckeln.
Dazu trug auch die Haltung von Joachim Gauck bei.
Sicherlich, Gauck hat erklärt, dass er sich nicht auf die Tribüne neben einen solchen diktatorischen Herrscher begeben will.
Wenn man sich die Biografie von Chodorkowski anschaut, dann kann man sagen: zwei Machtmenschen, einer hat verloren.
Unter Machtgesichtspunkten ist das vielleicht richtig. Zeitzeugen erzählen, dass Chodorkowski in den turbulenten 1990er Jahren einerseits brillant, aber auch hart verpackt war. Es gab damals viele rechtsfreie Räume, die auch Chodorkowski genutzt hat. In den Gegensatz zu Putin hat ihn aber gebracht, dass er das marode Wirtschaftsunternehmen nach westlichen Kriterien modernisieren wollte. Als eine unternehmerische Verbindung zum Westen anstand und Chodorkowski gleichzeitig als Unterstützer demokratischer Strömungen agierte, da hat Putin zugeschlagen.
Wie kommt es, dass ausgerechnet der fast vergessene alte Außenminister Hans-Dietrich Genscher jetzt eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen mit Putin spielen konnte?
Hans-Dietrich Genscher hat durch seine Biografie und sein hohes Alter eine gewisse Autorität. Er war als Vermittler eine kluge Wahl.
Genscher gilt in Russland nicht als einer, der durch sein diplomatisches Geschick zum Zerfall des Sowjet-Imperiums beigetragen hat?
Das ist, wenn man in Russland nachfragt, der bei uns so hoch geschätzte Gorbatschow.
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