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Ambivalente Prioritäten in KriegszeitenEs ist zu viel

In der Ukraine ist Krieg und die Welt schaut zu. Das Zuschauen macht wütend, ermüdet aber auch. Über ein Gefühl der Zerrissenheit.

Aleksander, 41, verabschiedet sich von seiner Tochter Anna am Bahnhof von Kiew Foto: Emilio Morenatti/AP

N ormalerweise schreibe ich an dieser Stelle über Medizin, Wissenschaft und alles, was damit zu tun hat. Heute werde ich ausnahmsweise damit brechen. Stattdessen möchte ich über die Emotionen schreiben, die ich bei mir und anderen beobachte, seit Russland vor zwei Wochen einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Was ich von allen Seiten höre, und selbst immer wieder denke? Es ist zu viel.

Es sind zu viele Themen, die auf uns einstürzen, und eine Flut an Gefühlen, die sie mitbringen. Da sind die täglichen Nachrichten und Bilder aus der Ukraine, die Tränen in die Augen treiben, und an manchen Tagen denke ich: heute werde ich weniger Nachrichten lesen, ich packe das nicht, noch ein Bild von einem Vater, der am Bahnsteig steht und weinend seiner Frau und seinen Kindern nachschaut, die sich in Sicherheit bringen müssen.

Noch ein Bild von Menschen, deren ganze Existenz durch einen einzigen Bombeneinschlag vernichtet wird. Und dann denke ich, wie egoistisch bist du eigentlich, glaubst du, die Menschen im Krieg können einfach mal so weniger Nachrichten gucken?

Dann sind da die Berichte von Schwarzen Flüchtenden, die an Grenzen abgewiesen werden, obwohl sie wie andere Ukrai­ne­r*in­nen vor dem Krieg flüchten, ich sehe Länder, die die Grenzen für Ukrai­ne­r*in­nen öffnen, von denen sie Menschen aus dem Nahen Osten weggeprügelt haben, ich lese von „guten“ und „schlechten“ Geflüchteten.

Spinnst du?

Ich habe das Gefühl, es zerreißt mich, die Monstrosität an Ungerechtigkeit und an Rassismus, und denke, aber darüber kann ich nicht reden, denn was würde ich denken, wenn ich gerade aus der Ukraine fliehen würde, würde ich denken, spinnst du, jetzt über Rassismus zu reden, während ein ganzes Volk weggebombt wird?

Würde ich das denken, denken das Menschen? Darf ich wütend sein angesichts dieses Unrechts, während gleichzeitig Menschen sterben, während sie ihre Männer, Brüder und Väter zurücklassen? Aber was ist mit anderen Geflüchteten, leiden sie nicht genauso?

Dann ist da noch der Alltag, der ja nicht aufhört, weil Krieg ist, Traurigkeiten, Überforderungen, Deadlines, Herausforderungen, Streit, alles da, alles noch intensiver. Und dann sind da die vielen Themen, die scheinbar nur nebenbei laufen, die massive Aufrüstung Deutschlands, die so verstörend ist, dass man gar nicht weiß, bei welchen Emotionen man da anfangen soll.

Der Krieg muss enden

Dass plötzlich ernsthaft über Atomkraft debattiert wird, wo man denkt, nach dem Fast-Super-GAU in der Ukraine müsste der Atomausstieg beschlossen werden, wenn er nicht schon beschlossen wäre. Die Pandemie, die immer noch wütet, in der immer noch jeden Tag Menschen sterben, Familien unter der Last brechen, Kita auf, Kita zu, und alles nochmal von vorne. Es ist zu viel.

Darf man aber sagen, dass es zu viel ist, während Menschen im Krieg sterben? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Antworten. Nur viele Gefühle. Es fällt schwer, sie auseinanderzuhalten. Nur eines weiß ich sicher: Dieser Scheißkrieg muss enden.

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Gilda Sahebi
Ausgebildet als Ärztin und Politikwissenschaftlerin, dann den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft, Naher Osten.
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7 Kommentare

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  • Im Ernstfall können Menschen deutlich mehr ertragen, als sie vermuten.

    Schockierende und belastende Bilder gibt es doch jeden Tag im Jahr aus den unterschiedlichsten Gegenden der Welt. Allerdings ist es um so leichter, sich die zu ersparen, je weiter die Gegend weg ist.



    Und ja, auch ich habe kürzlich bemerken müssen, dass die vielen größeren und kleineren Alltagssorgen nicht davon weg gehen, nur weil es jetzt zusätzlich noch eine neue, große gibt.



    Mein Fazit: Wir sind immer noch in der glücklichen Lage, uns über alle Themen einen Kopf machen zu können.



    Wenn das mal nicht mehr möglich ist, dann brennt auch bei uns die Hütte und wer nicht überschnappt, muss auf "Autopilot" schalten um zu überleben.



    Derweil kann helfen, zu helfen, aktiv gegen irgendeines der herrschenden Übel anzugehen.



    Also raus, aus der empfundenen Ohnmacht!

  • Ein Unrecht sorgt ja nicht dafür das sich die anderen in Luft auflösen.



    Ich finde es wichtig auch die anderen Themen nicht zu vergessen.

    Es hilft doch niemanden wenn wir solche Dinge totschweigen. Bzw doch Rassisten hilft es, wenn wir aufhören über die Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche der EU zu sprechen.

    Das ändert nichts daran das die Ukraine viel Solidarität bekommt.

    Wenn ich entscheiden muss antikriegsdemo oder aufstehen gegen Rassismus würde ich wieder zur Demo gegen rechts gehen. Zu den anderen kommen auch so genug Menschen.

    Und die Klimakrise ist ja auch nicht vorbei.

    Sich für Menschlichkeit einzusetzen ist immer richtig.

  • Die eigenen Gefühle nur ins sich reinzufressen hilft doch niemand. Man muss vielleicht nicht jedes Gefühl wahllos rauslassen sondern man schaut auf das Umfeld. Aber unter Freunden seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen ist doch Teil der Verarbeitung dieser monströsen Situation.



    Wir spielen Putin in die Hand, wenn wir mental krank werden, weil wir nicht sprechen. Es ist auch ein Krieg gegen uns, keiner auf dem Schlachtfeld, aber einer auf der psychischen Ebene. Je mehr wir uns unsere Gefühle zugestehen, mitteilen und hinterfragen was mit uns passiert, desto weniger erreicht Putin sein Ziel bei uns.

  • Es ist an der Zeit, Grenzen der Empathie zu erkennen.



    Innere Abgrenzung ist nicht schlecht, sondern nötig.



    Sonst ist die Welt nicht auszuhalten,



    und dann würde sie noch schlechter…

  • Wir können etwas tun, das nicht direkt, aber längerfristig wirkt: Energie sparen. Auf Autobahnen muss es endlich ein Tempolimit 100 geben und notfalls autofreie Sonntage. Und. Putin darf kein Geld mehr vom Westen bekommen. Der Westen hat Putin aufgerüstet mit den Abermilliarden für Energie. Merkel hat in ihrer komfortablen Blauäugigkeit eine Mitverantwortung für diesen Krieg. Sie hat die Energiewende verschlafen, verschleppt und ausgebremst und D vollkommen abhängig von Putins Energie gemacht. Spätestens 2014 war klar, zu was der Diktator, Dauerlügner und Multimörder fähig ist.

    • @Sarg Kuss Möder:

      So ein Blödsinn, hätte uns Putin das Gas und Öl für weniger Milliarden geben sollen? Wieso ist Merkel verantwortlich für den Krieg? Wir sind es, mit unserer Gier nach Wohlstand, billiger Energie und den Rechtsanspruch an den Vermieter die Wohnung auf 20 Grad aufzuheizen, der Clubkultur in Höhlen mit 20000 Watt Musikpower, mit U- Bahn alle 5 Minuten, mit Streaming und Bitcoin schürfen 24h WWW.



      Glücklich wenn die Anderen schuld sind

  • Heute morgen konnte man ein Statement des chinesischen Außenministers vor dem China-ZK nachlesen. Dieses war ausgesprochen deutlich.

    »Egal wie tückisch der internationale Sturm ist, China und Russland werden ihre strategische Entschlossenheit aufrechterhalten und die umfassende kooperative Partnerschaft in der neuen Ära vorantreiben.«

    Was heißt, das China voll hinter Russland steht, deren ÖL und Gas abnimmt und Russland mit Geld versorgt.

    Putin hat den vollen Support von China und wird damit seinen Ukraine.Krieg voll durchzeihen. Mindestens. Es gibt da auch noch das Baltikum.

    Wir werden viele Hunderttausende von Flüchtlingen aus Osteuropa bekommen plus weitere Hunderttausende Migranten wie üblich aus Drittstaaten wie Afrika, die arabischen Staaten etc. Es wird eng werden.

    China ist Deutschlands wichtigster Außenhandelspartner, und Deutschland ist vollkommen exportabhängig. Vermutlich also auch jede Menschen, die hier ihren Job verlieren.

    www.spiegel.de/aus...-b186-637aa8ba4e1f