Am Mittagstisch mit Kollegen: Offenbarung in der Pause
Viele Berufstätige gehen in die Kantine, andere bringen lieber selbstgekochtes Essen mit. Wie viel Persönliches steckt in der eigenen Lunchbox?

Es ist halb zwei, die Mikrowelle summt eine liebliche Melodie. Sie signalisiert: Essen ist fertig. Einer meiner Lieblingskollegen sitzt bereits am Pausentisch unseres Großraumbüros, wir essen beide asiatisch. Seins: gekauft, indonesischer Imbiss. Meins: selbst gekocht, vietnamesisch. Beide: Reis, Tofu, Gemüse. Während wir uns über Belangloses unterhalten, sagt er beiläufig: „Mitgebrachtes Essen ist so intim.“
Die Nahrungsaufnahme während der Arbeit soll vor allem einen Zweck erfüllen – satt machen. Das geschmacklose Essen der Kantine, das Supermarkt-Sandwich, der Imbiss. Vor- und abgefertigt, konform. Mitgebrachtes Essen hingegen ist persönlich und erzählt darum viel mehr über das Wesen des Konsumierenden. Was wird gekocht, wie groß ist die gewählte Portion, aus welchem Material ist die Box?
Sehr lange besaß ich kein To-Go-Behältnis für Essen, dann gab mir Mutter ein kleines, rundes Gefäß aus Glas mit Kunststoffdeckel. Anders als bei anderen Leihgaben wollte sie es nicht zurück. Es ist mikrowellenkompatibel, und es passt genau eine Portion für den Tagesdienst hinein, häufig genau das zu viel Gekochte vom Vorabend. Am besten nicht zu satt machend, ausreichend bis zum Abendessen.
Während einer Radreise kommt ein zweites – etwas größer, rechteckig, komplett aus Kunststoff – aus dem Carrefour dazu, besser geeignet für den Abenddienst. Ich bereite mir dafür meist Salat zu, mit Dingen, die noch im Kühlschrank sind. Das macht länger satt und reicht aus, um danach ohne Zwischensnack ins Bett zu fallen.
Kommentare über „komische Gerüche“
Ob Reste, Vorgekochtes oder Improvisiertes – eines dieser beiden Behältnisse sind Teil meines Arbeitsalltags geworden. Aus pragmatischen, finanziellen und kulinarischen Gründen. Für mich erfüllt Essen nämlich nie einfach nur einen Zweck. Zuhause koche ich das, worauf ich Appetit habe. Warum sollte ich in der Pause auf das verzichten, was mir Genuss bereitet? Die Lunchbox als Spiegel unserer Identität.
Während ich beim Mittagessen mit dem Kollegen noch über die Bedeutung von Intimität nachdenke, schaue ich auf meinen Löffel vor mir und das Etwas mit Reis. Welche meiner Charaktereigenschaften werden hier gerade offenbart?
Ich lasse Gewürze und Gerüche Revue passieren. Kein Tier: nachahmenswert. Keine Fischsauce: ebenfalls Erleichterung. Obwohl mein Gegenüber so wenig vegetarisch ist wie ich, bin ich froh darüber – keine Lust auf Meatshaming. Eigentlich unterscheidet sich mein Gericht nicht sonderlich von dem Imbiss des Kollegen, ist vielleicht weniger hübsch.
Bevorzugt essen wir in Gesellschaft von Menschen, die uns wohlgesonnen sind. Am Arbeitsplatz ist das anders, da suchen wir uns unsere Mitmenschen nicht aus. In meiner Historie gab es sie natürlich, die Kommentare über die „komisch riechenden Nahrungsmittel“ und ob es am Hund oder der Katze liege. Es war für mich Alltag, dass ich als diejenige galt, deren Essen nicht „normal“ sei.
In meinen Zwanzigern brachte mir meine Mutter bei jedem Besuch Proviant mit, frisch gekochte Lieblingsspeisen wie die Krabbensuppe Bún riêu oder Thịt Kho, karamellisierter Schweinebauch. Damit nichts verkommt, habe ich die weniger exotischen Gerichte wie Trứng Hấp, gedämpfter Eierbraten, auch mal mit zu einem meiner diversen Jobs gebracht.
Meine Esslust konnte ich dort nie wirklich ausleben: Die mit Liebe gekochten Gerichte meiner Mutter habe ich nicht mit Verlangen, sondern nur verlegen genossen. Als erwachsene Frau erwische ich mich auch heute noch dabei, wie ich Sorge habe, dass mein Essen kommentiert werden oder jemanden stören könnte.
Wasserspinat und gegrillter Zitronengrasfisch
Auch wenn mein aktuelles Großraumbüro mit maximal sechs Personen belegt ist, bemühe ich mich, meine Herkunft möglichst nicht in Viktualien auszudrücken. Aber warum verleugne ich, wer ich bin? Und dann auch noch aus (falscher) Rücksichtnahme?
In der vietnamesischen Kultur hat Essen einen hohen Stellenwert. Essen ist Fürsorge, Gemeinschaft und, ja, Intimität. Selten wird allein gegessen und noch seltener gibt es einen eigenen Teller mit einer eigenen Portion. Unterschiedlichste Kostbarkeiten wie Wasserspinat, gegrillter Zitronengrasfisch oder saure Fischsuppe werden in die Mitte gestellt und jede*r schnappt sich mit den Stäbchen etwas heraus. Eine Form des geteilten Essens, die etwa in der spanischen oder israelischen Kultur genauso praktiziert wird.
Selbst Marge Simpson weiß um die Vorzüge der vielen Kleinigkeiten: Sie seien wie Appetithappen für einen Hauptgang, der nie kommt. Zudem trendet die vietnamesische Küche. Spätestens seitdem Anthony Bourdain mit Barack Obama 2016 in Vietnam Bún cha gegessen hat, erholte sich meine Heimatküche rasant von manch übler Nachrede. Inzwischen gibt es in meiner alten Wohnstraße vier vietnamesische Lokale.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Eine Absolution für mitgebrachtes, vietnamesisches Essen? So weit sind wir wohl noch immer nicht. Eines Tages sitze ich am Pausentisch, als eine Gruppe von Kolleg*innen hereinstampft und demonstrativ die Fenster aufreißt. Was rieche denn so komisch, irgendwie nach Fuß? Sie rümpfen die Nase, schielen ausschließlich auf meine Schale. Mir bleibt der Hund im Hals stecken. Dabei hatte ich Salat mit geräuchertem Tofu dabei, alles aus dem deutschen Supermarkt, mit Apfel- statt Reisessig.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, in Räumen, die gemeinsam genutzt werden, keine Nasen unnötig zu penetrieren. Doch ist Essig wirklich so viel schlimmer als eine Portion Pommes oder der Leberkäse? Liegt es vielleicht gar nicht am Essen, sondern an der essenden Person? Trage ich mit meinem offensichtlichen asiatischen Aussehen schon die Katze im Bauch mit mir herum? Oder sagt es nicht viel mehr über die Herzensenge der urteilenden Person aus?
Zur Aufklärung deutscher Nasen werde ich weiterhin duftende Happen mitbringen und im Gegenzug auch mal mit in die Kantine gehen. Intimität steht immerhin auch für Verbundenheit – und die braucht man während des gemeinsamen Arbeitens ganz besonders.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Unmut in der CDU
Merz muss sie vor den Kopf stoßen
Kritik an ARD und Didi Hallervorden
Das träge und schwerfällige Walross
Parteichef unter Druck
Lokale CDU-Verbände kritisieren Merz
Stromverbrauch explodiert durch Hitze
Erneuerbare auf Rekordhoch, Emissionen auch
Kindererziehung nach Trennung
„Das Finanzamt benachteiligt Nestmodell-Eltern“
Börseneinbruch nach Trump-Zöllen
Zu früh für Panik – Crash ist nicht gleich Crash