Alternativer Nobelpreis: Die Frau mit den Äpfeln
Für viele Flüchtlinge in Russland ist Swetlana Gannuschkina die letzte Hoffnung. Ihr Credo: Sprich immer mit beiden Seiten.
Äpfel haben für die russische Menschenrechtlerin eine ganz besondere Bedeutung. „Es ist, als ob es gestern gewesen wäre“, beginnt sie zu erzählen. „Doch es war in der Sowjetunion im Jahr 1988.“ Sie befand sich mit einer Delegation Moskauer Menschenrechtler in Bergkarabach, dem mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiet in Aserbaidschan.
Zu dieser Zeit war der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern eskaliert. Krieg lag in der Luft. Damals galt es unter russischen Menschenrechtlern als selbstverständlich, die armenische Seite zu unterstützen. Niemand machte sich die Mühe, die andere Seite aufzusuchen. Eines Morgens ging Swetlana Gannuschkina aus dem Haus, in dem die Moskauer Delegation untergebracht war. Niemand nahm davon Kenntnis. Wusste man doch, dass sie ausgedehnte Spaziergänge liebte.
Keiner wollte die Äpfel
Und so lief Gannuschkina weiter und weiter. Bis schließlich vor ihr ein Haus am Waldrand auftauchte. Eine Frau lächelte ihr zu und grüßte sie mit „Salam“. Da wusste Swetlana Gannuschkina, dass sie auf der anderen Seite angekommen war. Die Frau lud die unbekannte Besucherin an den Tisch, bewirtete sie und unterhielt sich mit ihr in schlechtem Russisch. Zum Abschied drückte sie dem Gast aus Moskau eine kleine Tasche mit Äpfeln aus dem Garten in die Hand. „Geben Sie die Ihren armenischen Freunden dort auf der anderen Seite“, sagte die Frau und lächelte.
Als Swetlana Gannuschkina wieder auf der armenischen Seite ankam, war auch dort der Tisch bereits gedeckt. Stolz legte sie die Äpfel dazu. Eisiges Schweigen war die Antwort. „Niemand hat die Äpfel auch nur in die Hand nehmen wollen“, erzählt sie. Dann habe eine Frau doch zugegriffen. Eine zweite Frau tat es ihr gleich. Nur die Männer blieben hart und weigerten sich, die Äpfel der Aserbaidschanerin auch nur anzurühren.
Swetlana Gannuschkina lächelt. Die Geschichte mit den Äpfeln war ihr Schlüsselerlebnis. Seitdem hat die heute 74-Jährige der armenisch-aserbaidschanische Konflikt nicht mehr losgelassen, der sie übrigens auch ganz persönlich betrifft, stammt doch ihre Mutter aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Im Gegensatz zu vielen Mitstreitern bezieht sie nie mehr Position für nur eine Konfliktpartei. „Ich suche immer Kontakt zu beiden Seiten.“
Diese Unvoreingenommenheit hatte Folgen, auch für ihre kleine Wohnung mit den vergilbten Tapeten, den betagten Gardinen und dem Kabelgewirr am Boden. An der Wand im Arbeitszimmer hängt ein großes Schwarzweißfoto von ihrem Großvater, dem berühmten Psychiater Pjotr Gannuschkin, dessen Namen auch eine Moskauer Klinik trägt.
Treffpunkt Küche
Doch der Treffpunkt jeder russischen Wohnung war und ist die Küche. Immer häufiger trafen sich nun Armenier und Aserbaidschaner, wenn sie in Moskau waren, bei Swetlana Gannuschkina in der Küche neben dem alten sowjetischen Gasherd, auf dem der Teekessel summte, und debattierten stundenlang über Politik und den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt.
Der Preis: Der alternative Nobelpreis heißt eigentlich „Right Livelihood Award“, übersetzt etwa „Preis für die richtige Lebensweise“. Die mit insgesamt 3 Millionen Schwedischen Kronen (rund 315.000 Euro) dotierte Auszeichnung geht meist an vier Preisträger. Manchmal ist ein undotierter Ehrenpreis dabei.
Der Stifter: Der deutsch-schwedische Philatelist und Publizist Jakob von Uexküll wollte in den 70er Jahren erreichen, dass der offizielle Nobelpreis auch für die Bekämpfung der Armut und den Schutz der Umwelt vergeben werden. Als die Nobel-Stiftung das ablehnte, stiftete Uexküll 1980 einen eigenen Preis.
Es blieb nicht beim Debattieren. In Gannuschkinas Küche überreichten Armenier ihren aserbaidschanischen Gesprächspartnern Listen von Vermissten und Geiseln und umgekehrt. Viele armenische und aserbaidschanische Gefangene gelangten wieder in Freiheit, weil man sich beim Tee in Gannuschkinas Küche auf ihre Freilassung einigen konnte.
Gannuschkina, bis zu ihrer Pensionierung Dozentin für Mathematik, wusste, wie sie sich in diesen hitzigen Diskussionen Gehör verschaffte. Sie spricht strukturiert, argumentiert mit geradezu mathematischer Logik, manchmal mit sanftmütiger, manchmal auch mit durchdringender Stimme.
Als dann 1992, die Sowjetunion war untergegangen, zwischen Armenien und Aserbaidschan der Krieg ausbrach und die ersten Flüchtlinge in Moskau eintrafen, war Gannuschkina die Erste, die ihnen, zusammen mit einer Gruppe von Freundinnen, half, in der Millionenstadt unterzukommen. Die Behörden waren von dem unerwarteten Flüchtlingsstrom überfordert.
Jelzin, die große Enttäuschung
Swetlana Gannuschkina gründete daraufhin die Organisation „Zivile Unterstützung“. Es war die erste Organisation in Russland, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Migranten zu helfen. Bis heute erhält Gannuschkina jedes Jahr Glückwünsche von Armeniern aus aller Welt, denen sie damals geholfen hat, in ein anderes Land umzusiedeln.
Doch der Krieg um Bergkarabach, der 1994 mit einem Waffenstillstand gestoppt wurde, blieb nicht der einzige. Im selben Jahr begann der erste Tschetschenienkrieg. Und mit diesem eine Silvesternacht, die Swetlana Gannuschkina nicht mehr vergessen kann. „Wir saßen hier vor dem Fernseher, sahen uns das Unterhaltungsprogramm an, das wie in jedem Jahr mit Tanz und Musik gute Laune verbreiten wollte“, sagt Gannuschkina und deutet auf den Bildschirm. „Aber uns war nicht nach Feiern zumute, unsere Gedanken waren in Tschetschenien.“
Ihre Befürchtung: Die russische Luftwaffe würde genau in der Silvesternacht einen Angriff auf Grosni, die Hauptstadt der abtrünnigen russischen Teilrepublik Tschetschenien, starten. Nach einem Telefonat am Neujahrsmorgen war es schreckliche Gewissheit. Mit einem Feuerwerk aus Bomben war Präsident Boris Jelzin ins neue Jahr gestartet.
Schon 1993 hatte Gannuschkina jegliche Achtung vor Jelzin verloren, als dieser mit Panzern und Soldaten das Parlament hatte stürmen lassen. Für Gannuschkina hat es eine besondere Tragik, dass Boris Jelzin 1991 mit Unterstützung der liberalen Intelligenz an die Macht gekommen war. Die Menschenrechtsorganisation Memorial hatte mit Jelzin anfangs sogar zusammengearbeitet.
Im Menschenrechtsrat
Sollte sie mit Jelzins Nachfolger, dem neuen Präsidenten Wladimir Putin, zusammenarbeiten? Lange hat Gannuschkina gezögert, als Putin ihr 2002 eine Mitarbeit in dem beim russischen Präsidenten angesiedelten Menschenrechtsrat antrug. Schließlich sagte sie zu. Sie hoffte, als Mitglied in diesem Rat tatsächlich etwas bewegen zu können. Swetlana Gannuschkina hatte nie viel übrig für Fundamentalopposition. Ihr Credo: Die Aufgabe von Nichtregierungsorganisationen ist es, mit den Behörden und Machthabern zum Wohl der Menschen zusammenzuarbeiten, die dringend Hilfe brauchen.
2012 verlässt sie resigniert den Menschenrechtsrat. Was nutzt eine Beraterin, wenn sich der Präsident gar nicht beraten lassen will? Geduldig habe Putin ihre Einwände gegen einen Gesetzentwurf zur Migration angehört, erzählt sie. Wenig später hat er dieses Gesetz unterschrieben, ohne auch nur einen ihrer Vorschläge berücksichtigt zu haben.
Inzwischen hat das von Swetlana Gannuschkina geleitete Netzwerk „Migration und Recht“ russlandweit 41 Beratungsstellen für Migranten. Swetlana Gannuschkina weiß, wie sie in diesem Netzwerk das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt. Regelmäßig organisiert sie Seminare für ihre Juristen, die hierbei nicht nur geschult werden. Sie tanken auch auf für ihre weitere Arbeit.
Diese Arbeit ist gefährlich, lebensgefährlich. Besonders in Tschetschenien, seitdem in der russischen Teilrepublik Ramsan Kadyrow an der Macht ist. Menschen verschwinden dort, werden gefoltert, ermordet. Natalja Estermirowa war Mitarbeiterin der tschetschenischen Anlaufstelle von „Migration und Recht“.
Die toten Freunde
Swetlana Gannuschkinas Stimme stockt, als sie von der Entführung der damals 51-Jährigen im Juli 2009 berichtet. Noch wenige Stunden zuvor war sie mit Natalia Estemirowa zusammen gewesen. Sofort nach deren Verschwinden setzte sie alles in Bewegung, um das Leben der Mitarbeiterin zu retten. Vergeblich. Man fand Natalja Estemirowa, durch Schüsse in Brust und Kopf getötet.
Auch Wiktor Popkow starb durch Gewehrkugeln. Gannuschkina hat Tränen in den Augen, als sie von dem Mann mit den langen Haaren und dem Rauschebart erzählt, der im Jahr 2001 Hilfspakete für tschetschenische Dörfer in seinem Gepäck hatte. Hinterrücks wurde er in seinem Auto beschossen. Ein Bus nahm den schwer verletzten Popkow auf. Doch an einem Checkpoint habe man das Fahrzeug eine Stunde warten lassen. Popkow fiel ins Koma und starb wenig später.
Doch Swetlana Gannuschkina möchte nicht, dass Tschetschenien nur mit traurigen Erlebnissen verbunden ist. „Die Menschen dort in all ihrer Herzlichkeit und Wärme haben mir viel Kraft und Wärme gegeben. Es sind diese Begegnungen, die mir die Energie geben weiterzumachen.“
Wenig später betritt Swetlana Gannuschkina das Moskauer Büro ihrer zweiten Organisation „Zivile Unterstützung“ auf dem Olimpiski Prospekt. Das Vorzimmer ist immer voller Menschen aus anderen Kontinenten oder auch aus Russland selbst, die sich von der Organisation Hilfe erhoffen. Sie scherzt mit den afrikanischen, afghanischen, syrischen und tschetschenischen Kindern, die im Vorraum geduldig ausharren.
Kein Zweifel, Swetlana Gannuschkina lacht gern. „Eigentlich bin ich aber Pessimistin“, sagt sie kurz darauf an ihrem Schreibtisch. „Ich habe das Gefühl, überall um mich herum ist der Kollaps in vollem Gange.“ Die Welt scheint krank. Woran liegt das? „Ich glaube, dass viele die Menschheit retten wollen und dabei die einzelnen Menschen übersehen.“
Swetlana Gannuschkina
2015 erklärte die russische Staatsanwaltschaft Gannuschkinas Organisation Zivile Unterstützung zum „ausländischen Agenten“. Es ist längst nicht die einzige russische Nichtregierungsorganisation, die mit dem diskriminierenden Label belegt worden ist, weil sie aus dem Ausland unterstützt werde.
„Ja doch, meine Auftraggeber sind Ausländer“, sagt Gannuschkina stolz und führt in den Vorraum zurück. „Hier sind meine Auftraggeber“, sie zeigt auf zwei Kinder aus Schwarzafrika, die sie mit großen Augen fragend ansehen. „Und solange ich etwas für diese ‚Auftraggeber‘ tun kann“, fährt die 74-Jährige fort, „werde ich überhaupt nicht daran denken, mich auf eine Datscha zurückzuziehen oder zu meinen beiden Kindern zu ziehen, die in den USA leben.“
Die Ehrung mit dem alternativen Nobelpreis ist für sie „ein Akt der Solidarität mit den Menschen, die gezwungen sind, zu fliehen.“ Das Preisgeld soll vor allem Flüchtlingsfrauen zugutekommen, „die Opfer von Gewalt geworden sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!