Alternativer Literaturnobelpreis: Schreiben, um sich zu befreien
Einmalig wird 2018 statt des regulären der alternative Literaturnobelpreis vergeben. Den bekommt die Schriftstellerin Maryse Condé.
In Pointe-à-Pitre, einem Ort im französischen Übersee-Departement Guadeloupe, wurde Maryse Condé geboren, gehörte einer afrokaribischen Mittelschichtsfamilie und hatte sieben Geschwister. Mit 16 ging sie nach Paris und studierte Englisch an der Sorbonne. 1958 heiratete sie den guineischen Schauspieler Mamadoun Condé. Zusammen mit ihren vier Kindern waren sie vorwiegend in Westafrika unterwegs, wo sie an verschiedenen Sprachinstituten arbeitete. 1973 kehrte sie nach Frankreich zurück, promovierte über die Stereotype von Schwarzen in der westindischen Literatur.
Ihre Wanderjahre durch Westafrika liefern den Stoff und die Fragen für ihren bekanntesten historischen Roman „Segu. Die Mauern aus Lehm“ (1984). Segu liegt in Mali zwischen Timbuktu und Bamako und war bis zur muslimischen Eroberung 1861 Hauptstadt des Königreichs Bambara. Der Animismus der Mehrheit mit seiner sexuellen Freizügigkeit gilt den Korangläubigen als Sünde, den heranrückenden französischen Kolonialisten mit ihren Missionaren als barbarisch.
Im Zentrum steht die Familie des Bambara-Patriarchen Dusika Traoré und seiner Frauen und Konkubinen aus verschiedenen Ethnien. Ein Sohn wendet sich dem Islam zu, drei weitere treibt es aus Segu fort, durch halb Afrika – oder im Sklavenschiff bis nach Brasilien.
Verlorene Sehnsuchtsorte
Condés Roman erzählt von immer neuen historischen Wendungen, Allianzen, Feindschaften, der Macht der Männer, der Unfähigkeit der Menschen zum Frieden. Und er erzählt er von der Suche der Menschen nach einem Sehnsuchtsort, der immer wieder verloren geht. Sei es Afrika für die in der Karibik gestrandeten Sklaven oder für die Afrikaner Jamaika, wo sich die scheinbar heldenhaften Maroons von der Sklaverei befreiten.
Die Enttäuschung ist programmiert. Condé entmystifiziert, erzählt sinnlich und grausam von historischen Schicksalsschlägen. Nur gelegentlich wirkt dies ob ihrer großen Linien etwas schemenhaft. „Ich hatte vorher eine sehr romantische Vorstellung von Afrika“, sagt sie in einem Interview, „aber in Afrika fühlte ich mich oft fremd. Ich erkannte: Ich bin aus der Karibik.“
Als engagierte Schriftstellerin sieht sie sich nicht: „Ich schreibe über Sklaverei, über Afrika, über den Zustand der schwarzen Menschen in der Welt, weil ich meine Gedanken ordnen, die Welt verstehen und mit mir selbst Frieden haben will.“ Dabei ist sie durchaus engagiert: Condé war erste Präsidentin des Comité pour la mémoire de l’esclavage (Komitee zur Erinnerung an die Sklaverei). Auf ihre Initiative geht zurück, dass seit 2006 der 10. Mai als Tag des Gedenkens an die Sklaverei begangen wird.
Condé mag in der Tradition afrokaribischer Intellektueller wie Édouard Glissant und Aimé Césaire stehen. Aus der sie sich befreit hat: „Für mich war das Schreiben zunächst die Anwendung der Formel von Césaire: Mein Mund wird der Mund des Unglücks sein, das keine Stimme hat. Das ist ein ehrgeiziges Projekt und ein bisschen arrogant. Doch dann begann ich für mich selbst zu sprechen. Ich fühlte mich befreit, als ich mich über Dinge lustig machte, die als heilig galten.“
Ein Preis für alle
Den alternativen Nobelpreis will sie „vor allem mit allen Menschen Guadeloupes teilen“, sagte sie mit gebrechlicher Stimme in einer Videobotschaft. Das Land werde sonst „nur erwähnt, wenn es Hurrikane oder Erdbeben gibt“. Zu ihrer Geburtsinsel Guadeloupe hat die Schriftstellerin, die an einer degenerativen Krankheit leidet, aber ein gespaltenes Verhältnis: Man gebe sich paradiesisch und blende Arbeitslosigkeit, Armut, Landverteilung und Wasserknappheit aus.
Maryse Condés Romane erscheinen auf Deutsch im Unionsverlag
Neben der Literatur hat Condé eine zweite Leidenschaft: Kochen. „Eines Tages wurde mir klar, dass Literatur und Kochen benachbarte Künste waren. Kochen heißt auch zu erfinden, mit dem zu leben, was man findet, zu erneuern.“
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