Alternative Bibelkunde – 3. Folge: Kritische Nächstenliebe
Die Lust daran andere zu richten hat rasant zugenommen. Nicht selten ist die Motivation die eigene Selbstgerechtigkeit.
Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. (Johannes-Offenbarung 2,10)
Gezockt, gelogen, geklaut: Hoeneß, Wulff und Guttenberg. All diesen Fällen, und man könnte diese Liste beliebig mit zeitnahen Alternativbeispielen (siehe das OLG München) erweitern, ist immanent, dass sie den Moraldiskurs des Landes medienwirksam bestimmten und bestimmen.
Die Lust daran – insbesondere der Presse, insbesondere auf der Straße –, andere zu richten, hat rasant zugenommen. Ebenso sehr wie das Sehnen nach wirksamer gesellschaftlicher Läuterung. Uli Hoeneß gab der Wochenzeitschrift Die Zeit kürzlich ein dem entsprechendes Interview.
Im Kern des prozessualen Geschnatters steht ein tiefes Bedürfnis nach dem, was hinlänglich Gerechtigkeit genannt wird. Auf beiden Seiten des Grabens gibt es eine immense Lust daran, diese zu empfinden. Es gibt die Majorität im Land, die sich geifernd an den Fallenden weidet. Geschieht ihnen recht so! Deren Spiegelbild ist der Zwilling des Gefühls: das Selbstgerechte.
Ein „so schlimm war es doch auch nicht“. Gerade den angesprochenen, öffentlich deklarierten Delinquenten haftet an, sie seien dies immer gewesen. Hoeneß, der Altruist, hat Steuern hinterzogen. Guttenberg, der Shootingstar, hat geklaut für seine Doktorarbeit. Wulff, der Präsident, hat gelogen. Alle haben sie sich selbst die Treue gehalten, bis es nicht mehr anders ging, unfähig zur Reflexion.
Mit Platitüden ummantelt
Dogmatisch haben sie beharrt auf dem eigenen Standpunkt, nichts falsch gemacht zu haben, oder schlicht geschwiegen, bis der Druck unerträglich wurde. Deswegen ist die Häme so groß und in bestimmten Situationen der Wunsch nach Strafe so ausgeprägt. Daraus wird schnell ein Zorn, der sich mit Plattitüden wie: „Die dürfen nicht davonkommen, die nicht“, ummantelt. Auch das ist selbstgerecht.
Die berühmte Stelle aus der Offenbarung des Johannes galt verfolgten Christen. Sie war als ideelle Stütze in existenzieller Not gedacht. Sie sollte bekräftigen, hoffnungsvoll mit Nachsicht dem oder der anderen und mit fundamentaler Güte, auch wenn diese einem nicht entgegengebracht wird, zu antworten. Auch diese Haltung kann dogmatisch sein.
Im schlimmsten Fall kann sie – davon können die Protestanten wahrlich ein Lied singen – jene ausschließen, die eigentlich eingeschlossen werden sollen. Dennoch: Eine kritische Nächstenliebe, die Strafe nicht ausschließt, sondern als Teil des Vergebens leise beherzigt, ist ebenso zeit- wie alternativlos. Vielleicht wird man dadurch wirklich dem anderen und durch ihn letztlich sich selbst gerecht.
Jan Scheper, 31, ist Volontär bei taz.de. Er wuchs in einer ökumenischen Familie auf.
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