Altenpflegerin über die letzten Dinge: „Man darf Demente nicht anlügen“
Constanze Westphal arbeitet in einem Altenheim, wo sie Ausgeliefertsein erlebt und doch auch Glück. Ihre Zukunft sieht sie darin nicht.
Ich kenne die Altenpflegerin Constanze Westphal privat, einmal hat sie mir länger von einer Bewohnerin erzählt, die immer nach ihrer Zwillingschwester fragt und sie dann ein einziges Mal wiedergetroffen hat. Die Geschichte ist mir nicht aus dem Kopf gegangen, deshalb ist ein Interview daraus geworden.
wochentaz: Warum sind Sie Altenpflegerin geworden, Frau Westphal?
Constanze Westphal: Ich bin nicht Altenpflegerin geworden, sondern Krankenschwester. Die hieß damals noch Krankenpflegerin und das bin ich ganz bewusst geworden, weil es mir wirklich um die Pflege ging. Und als ich nach meiner Kinderpause wieder anfangen wollte, ist die Pflege im Krankenhaus so technisch geworden, dass ich darauf keine Lust mehr hatte. Jetzt arbeite ich in einem Altenheim, wo ausschließlich demente Menschen leben.
Ich erlebe die Altenheime als Blackbox, in die Leute möglichst selten reingehen, weil sie die eigene düstere Zukunft nicht sehen wollen.
Das geht mir aber genauso, ich sehe meine Zukunft da auch nicht. Ich will mich da auch nicht sehen. Das ist etwas, was man ausblendet, sowohl als Dementer als auch Nichtdementer.
Ist es nicht schwierig, das auszublenden, wenn man es täglich erlebt?
Wir spaßen darüber. Ich sage zu meiner Kollegin: „Wir nehmen dann dieses Doppelzimmer, ich schlaf aber am Fenster.“ Wobei ich merke, dass, je älter ich werde, es umso schwieriger wird, das auszublenden. Ich werde einfach emotionaler. Es berührt mich mehr, wenn ich diese eine Bewohnerin vor mir habe. Ich könnte jedes Mal heulen, weil ich denke: Mensch, was hast du hier noch für ein Scheißleben? Wenn sie umfiele, würde ich mir wünschen, dass ich zu spät zur Reanimation komme.
Der Mensch
Constanze Westphal, 65, arbeitet seit 26 Jahren in der Altenpflege. Sie hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Niedersachsen auf dem Land - mit drei Schafen, fünf Bienenvölkern, zehn Hühnern, einem Gänsepaar, zwei Katzen und einem alten Hund.
Die Arbeit
Constanze Westphal pflegt demente Menschen in einem Altenheim mit 36 Bewohner:innen, sie macht gern die morgendliche Pflege, weil es eine Chance ist, die Menschen zu aktivieren - und sei es nur, kurz auf der Bettkante zu sitzen.
Was ist es, dass sie Ihnen so leidtut?
Seit sie da ist, hat sie ein schmerz- oder angstverzerrtes Gesicht. Normalerweise kann man ja von einem Gesichtsausdruck mal ablesen, dass es jemandem kurz ein bisschen gut geht, eine Entspannung, manchmal auch sogar ein Lächeln. Und es ist nicht bei ihr. Gar nichts.
Haben Sie das Gefühl, sie erreichen zu können?
Nein. Jein. Stimmt eigentlich nicht, wenn Sie mich das so direkt fragen. Wenn sie mir begegnet und ich meine Hand ausstrecke, dann nimmt sie meine Hand. Und dann nimmt sie mich mit auf ihre Reise.
Sie haben das einmal in einem Gespräch angedeutet, und auch das war – fand ich – etwas Trauriges: dass so viel Angst in diesen Menschen hochkommt. Ist das die Regel?
Nein. Aber bei denen, bei denen es so ist, kannst du sie nicht packen. Diese Frau gilt als austherapiert. Man könnte sie jetzt noch so weit sedieren, dass sie nur noch daliegt und schläft. Da weiß ich auch nicht, was dann besser ist.
Was gibt es für Therapien bei dementen Menschen mit Angst?
Es gibt Medikamente, die Ängste lösen und bei manch einem ganz gut greifen. Wir hatten einen Bewohner, nicht viel älter als ich, der Alkoholiker war und Korsakow-Demenz hatte. Der hatte plötzlich Angst vor uns und dachte immer, wir wollen ihn vergiften. Er hat nichts mehr gegessen und innerhalb von einem Monat zehn Kilo abgenommen. Das ist dann etwas, wo man tatsächlich medikamentös eingreifen kann. Aber bei den anderen Ängsten – da die Leute nicht mehr reden – ist das ganz schwer.
Ich erinnere mich vage an ein Buch mit dem Titel „Das Glück der Dementen“. Erleben Sie das auch?
Ich würde sogar sagen, dass die Mehrzahl größtenteils glücklich ist. Wenn ich mir meine Bewohner angucke, dann sind diese Auffälligen – und das sind ja die mit den Ängsten oder den Aggressionen, wobei die Aggression oft aus Angst kommt – zwar sehr anstrengend, aber das sind die wenigsten. Es sind halt diejenigen, die die größere Aufmerksamkeit brauchen.
Und die anderen?
Die sind in ihrer Welt. Sie haben oft ihre Heiratsnamen vergessen, sie fühlen sich als Jugendliche und gehen zurück auf die andere Seite der Entwicklung. Sie sitzen zusammen, und diejenigen, die noch reden können, reden. Wir haben auch eine Bewohnerin, die zwar nicht mehr redet, aber unheimlich gerne lacht, und wenn die anderen reden und sie lacht, dann ist das auch eine Kommunikation. Sie haben Momente, wo es schwierig wird, wenn sie meinen, nach Hause zu müssen. Oder wenn sie meinen, dass die Mutter krank ist und sie jetzt zu ihr müssten.
Ich habe mal eine Reportage gelesen über eine alte Frau, da hieß es: Na ja, und dann starb ihr Mann, und gut, das war nicht schön, aber dann starb ihre alte Freundin und ab dann war es vorbei.
So war es bei meiner Mutter. Ihre älteste Freundin war ihre älteste Cousine und die ist mit fast 100 gestorben und kurz danach hat meine Mutter einen Schlaganfall gehabt und ist dann auch gestorben. Ich war bei ihr, als diese Tante Traute starb, und da hat sie sich auf ihr Bett gelegt, sich an die Wand gedreht und einen ganzen Tag nicht mehr mit mir geredet.
Merkt man im Altenheim, dass diese stereotypen Gewichtungen, wer die wichtigsten Menschen im Leben sind, oft nicht hinhauen?
Der Ehepartner ist vollkommen unwichtig. Oft sind auch die Kinder nicht mehr wichtig.
Das muss man erst mal schlucken.
Ganz ehrlich: Eltern, die sind wichtig. Und Geschwister. Frühe Kindheit und Jugend, das sind die Jahre, die lange im Langzeitgedächtnis bleiben, und Dinge, die einschneidend waren – bei manchen ist das noch die weitere Familie, bei anderen sind es Kriegserlebnisse, beim Nächsten etwas ganz anderes.
Wer hält den Alten die Stange? Sind es Nachbarn oder sind es die Kinder?
Bei uns sind es die Kinder und auch die Ehepartner, die gibt es ja bei vielen noch. Unsere Leute kriegen relativ viel Besuch, was ich sehr schön finde. Da ist dann auch ein Ehemann, der so traurig darüber ist, dass seine Frau ihn nicht mehr erkennt. Er sagt: Ich komme eigentlich nur noch hierher, um euch die Arbeit zu erleichtern. Ich ermutige die Leute trotzdem, immer wieder zu kommen, weil wir nicht wirklich wissen, was von unseren Bewohnern wahrgenommen wird und was nicht.
Ich hake nochmal nach: einerseits sagen Sie, dass die meisten Leute zufrieden hier im Altenheim sind, und andererseits sind Sie sehr klar darin, selbst auf keinen Fall dort leben zu wollen. Wie geht das zusammen?
Das eine ist, dass sie in ihrer Welt glücklich und zufrieden sind, Das ist aber für die Umwelt und für die Angehörigen eine sehr, sehr anstrengende Geschichte. Mir sind meine nächsten Angehörigen nicht egal, denen will ich das ungern zumuten. Das andere ist: In der Welt, in der sie da sind, sind sie komplett ausgeliefert. Und dieses Ausgeliefertsein ist mir eine sehr unangenehme Vorstellung. Heute, als ich meine Schafe ausgemistet habe, habe ich überlegt, was Sie vielleicht fragen werden. Und da ist mir dann auch noch was gekommen, als ich an diese letzten Wochen dachte, die ich hier gearbeitet habe, in Unterbesetzung: dieser Beruf ist ohne einen Sinn fürs Karitative gar nicht zu machen. Ich habe über die Feiertage gearbeitet – mit lauter Leuten, die alle freiwillig eingesprungen sind. Das waren alles die über 50-Jährigen mit irgendwelchen eigenen Gebrechen.
Es klingt so, als könnten Sie Ihre Arbeit nicht so machen, wie Sie sie eigentlich machen wollen.
Wie ich es wollte, ist das eine, und wie ich es müsste, ist manchmal beinahe schon das andere. Solche Tage hatten wir in letzter Zeit manchmal. Und das macht dann auch keinen Spaß mehr. Ich habe dann für mich beschlossen, dass ich mit normalem Rentenalter auch in Rente gehe. Ich arbeite dann gerne noch weiter, aber so, dass mich keiner mehr zwischendurch rufen kann. Denn selbst, wenn ich frei habe, bin ich innerlich immer für den Notfall auf dem Sprung, weil ich ja weiß, wie unbefriedigend es ist, immer nur das Nötigste tun zu können.
Trotzdem hat man in Ihrem Heim die Zeit gefunden, zwei demente Zwillingsschwestern zusammenzubringen. Wie kam es dazu?
Clara lag mir sehr am Herzen, weil sie zu uns kam und kreuzunglücklich war, weil sie zu ihrer Mutter und zu ihrer Schwester wollte. Clara konnte nachts nicht schlafen. Ich hatte viel Nachtwache in der Zeit und ich wusste, dass Clara sehr gläubig war. Sie saß da wie die Kinder auf diesen Glanzbildchen, die mit ihren weißen Hemdchen im Bett das Vaterunser beten. Dann habe ich gesagt: „Clara, komm, jetzt beten wir ein Vaterunser.“ Und dann haben wir ein Vaterunser nach dem anderen gebetet, und das hat sie getröstet und sie ist eingeschlafen.
Und wie war das mit dem Besuch der Schwester?
Realisiert hat das natürlich die Chefetage und nicht ich. Ich hatte an dem Tag nicht Dienst, ich habe nur hinterher gehört, wie es war. Die Schwester war auch dement und lebte weiter weg in einem anderen Heim, weil die beiden an verschiedenen Orten verheiratet gewesen waren. Sie haben miteinander gesprochen, aber es war nicht klar, ob sie sich erkannt haben. Aber nach diesem Treffen hat Clara kaum noch nach Rosa gefragt. Sie hat jetzt manchmal das Problem, dass ihre Mutter im Sterben liegt und sie da dringend hinmuss.
Was sagen Sie ihr dann?
Tja, das ist verschieden. Man darf Demente nicht anlügen. Im Grunde ihres Herzens wissen sie, dass die Mutter nicht mehr lebt. Und wenn du jetzt eine dumme Geschichte erfindest, dann merken sie, dass du lügst. Deswegen muss man entweder sagen, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert, oder dass ich mich darum kümmern werde, dass sie dahin kommt. Je nachdem, wie das von ihr kommt, kann ich auch sagen: „Mensch, Clara, du bist jetzt weit über 80 Jahre alt. Da ist deine Mutter doch längst tot.“
Kann sie das hinnehmen?
Manchmal liege ich falsch, das ist dann natürlich blöd. Dann wird sie wütend und manchmal guckt sie mich ganz erleichtert an und sagt: Ach ja. Das weiß man vorher nie so genau. All das, was ich hier erzähle, beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf dem, was ich über Jahre beobachtet und erlebt habe. Es ist das, was ich mir zusammengebastelt habe, um mit alldem irgendwie zufriedenstellend umgehen zu können.
Ein Geriater hat einmal zu mir gesagt, dass derzeit noch eine Generation in den Altenheimen lebt, die mit dem Verlust an Autonomie mutmaßlich besser zurechtkommt als die späteren. Erleben Sie das ähnlich?
Jein. Es passt bei uns nicht so ganz, weil unsere Leute doch auch teilweise relativ jung sind und wir nur Demente haben. Ich würde sagen, es ist im Umbruch. Wobei wir auch eine Bewohnerin haben, mit der man sich richtig gut zoffen kann. Das braucht sie auch, um ihren Stress und ihre Unzufriedenheit loszuwerden, und wenn sie Zoff will, dann soll sie ihn auch haben. Hinterher müssen wir uns natürlich vertragen.
Eines wollte ich Sie noch fragen, es ist eine sehr private Frage: Wenn man so viel Sterben miterlebt, beruhigt das im Hinblick auf das eigene oder macht es einen eher unruhig?
Nein, das macht einen sehr gelassen. Vielleicht macht das auch mein Alter. Ich habe viel friedlichen Tod erlebt.
Können Sie das so begleiten, wie Sie es für richtig halten?
Wenn wir Sterbende haben, haben die in der Schicht Priorität. Wenn die Zeit nicht da sein sollte, kriegen die anderen weniger. Die wirklich schönste Begleitung, die ich hatte, war nach unserer Coronazeit. Das war ein Mann, der sich von Corona nie wirklich erholt hat und eine Lungenentzündung nach der anderen bekam. Er ist über eine lange Zeit gestorben, und die Ehefrau hatten wir mit bei ihm im Zimmer einquartiert. Sie hat ihn zwei Wochen begleitet. Man hat gemerkt, dass da sehr viel Liebe war. Er hat trotz allem immer wieder gelächelt, wenn er sie gesehen hat.
Was war es für ein Mann?
Er war Lehrer und ein Menschenfreund. Er hat immer gespürt, wenn andere traurig waren, und sie einfach in den Arm genommen. Und zwischendurch war er ganz fürchterlich aggressiv. Als diese Phase kam, als er mit der Demenz überhaupt nicht mehr zurechtkam, war es hart. Ich habe auch mehrere Blessuren von ihm davongetragen.
Einmal, als wir über das Sterben sprachen, meinten Sie, man brauche eine bestimmte Menge von Kraft, eine Art Entscheidung dafür.
Es gibt diesen Spruch, dass Loslassen oft mehr Kraft braucht als Festhalten. Ich glaube, das kann man genau darauf beziehen.
Und bei den Dementen?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich weiß es nicht. Eigentlich fallen sie in sich zusammen. Sie werden immer weniger und weniger. Bis sie plötzlich ganz weg sind. Oft haben sie kurz davor noch einmal so einen hellen Tag. Der Lehrer hatte lange nichts gegessen, und plötzlich saß er im Bett und sagte mit klarer Stimme: „Ich habe Hunger.“ Ich glaube, sie haben ihm Apfelmus von seiner Lieblingssorte gegeben, und danach ist er gestorben. Diese Entscheidung zum Sterben habe ich eher bei anderen erlebt. Etwa in einem anderen Heim bei einer Frau, die nach einem Schenkelhalsbruch in die Kurzzeitpflege kam und sich eigentlich gut erholt hatte und nach Hause zurückwollte. Dann bekam sie von ihren Kindern eröffnet, dass sie im Heim bleiben könnte und das Haus verkauft sei. Drei Tage später war sie tot.
Jetzt enden wir doch auf einer traurigen Note mit den herzlosen Angehörigen.
Die gibt es schon auch.
Aber es gibt auch die Ehefrau, die ihren Mann zwei Wochen in den Tod begleitet hat.
Ja, es war sehr schön, das zu erleben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen