Alte Lasten & neue Erfolge: Entgiftungskur für Moorfleet
Rund 30 Jahre nach Schließung des Boehringer Werks einigen sich Senat, Chemiekonzern und Umweltverbände auf eine Grundwasser-Sanierung.
HAMBURG taz | „Was wir heute erleben, ist schon nicht alltäglich“, freut sich eine gut gelaunte Umweltsenatorin und deutet in die Runde der Versammelten: „Wann treten die Umweltbehörde, ein Chemieunternehmen und die Naturschutzverbände schon einmal gemeinsam zufrieden vor die Presse?“
Der Grund für Jutta Blankaus (SPD) Freude und den seltenen Schulterschluss der einstigen Gegenspieler: Am Dienstag billigte der Senat einen Langzeit-Vertrag, indem sich der Chemie-Riese Boehringer-Ingelheim verpflichtet, die Grundwasserverunreinigung durch Chlorbenzole rund um sein ehemaliges Werksgelände in Moorfleet in den kommenden Jahren fast spurlos zu beseitigen.
Ein Plan, der auch beim BUND Entzücken hervorruft. „Was hier passiert, kann Vorbildcharakter für die Altlastensanierung in ganz Deutschland haben“, sagte Maren Jonseck-Orth von der Umweltorganisation.
Der ehemalige Saulus Boehringer mutiert so zum Paulus. Im Frühsommer 1984 schockte ein Dioxin-Skandal ganz Hamburg. Nach vielen Demonstrationen musste Boehringer seine Moorfleeter Produktionsanlage für Pflanzenschutzmittel auf Anweisung der Umweltbehörde dicht machen – die erste aus Umweltschutzgründen verfügte Werksschließung in der Bundesrepublik.
Von 1951 bis 1984 wurden auf dem Gelände von Boehringer-Ingelheim in Moorfleet Pflanzenschutzmittel hergestellt, bei deren Produktion das Seveso-Dioxin und Chlorbenzole anfielen.
Nach einer 1991 veröffentlichten Senatsstudie erkrankten Arbeiter, die lange in Moorfleet beschäftigt waren, doppelt so häufig an Krebs wie der Durchschnitt.
Nach der Werksschließung gründete Boehringer 1984 die "Dekonta", die Pläne zur Werkssanierung entwickelte.
Ein erster Versuch, die verseuchten Flächen in der Verbrennungsanlage "Prometheus" so zu erhitzen, dass die Schadstoffe zersetzt werden, führte zu keiner nennenswerten Entlastung des Bodens.
1994 wurde der ehemalige Firmenbereich durch metertiefe Spundwände von der Umgebung hermetisch abgetrennt.
Doch die Schließung kam zu spät: An Krebs und Chlorakne erkrankte Werksarbeiter, die mit dem sogenannten Seveso-Dioxin in Berührung gekommen waren, vergiftete Böden und verseuchtes Wasser gehörten zu den Hinterlassenschaften der 33-jährigen Werksgeschichte. In den darauffolgenden Jahren wurde zwar das ehemalige Werksgelände mit einer Betonwanne samt Asphaltdeckel hermetisch von der Umwelt abgeschlossen, doch vor allem die gefährlichen Chlorbenzole hatten da schon lange ihren Weg ins Grundwasser gefunden.
Die nachfolgende Sanierung von Boden und Umgebungswasser brachte kaum nennenswerte Erfolge: Die weitere Ausbreitung der Schadstofffahne im Grundwasser konnte durch eine Wasseraufbereitungsanlage zwar gestoppt, die Giftbelastung dadurch aber nicht wesentlich gesenkt werden. 2013 endete zudem die vertragliche Verpflichtung Boehringers, die Umweltsanierung weiter mit zu finanzieren.
„Die jetzt beschlossene Sanierung“, die 40 Jahre dauern und Boehringer rund 17,5 Millionen Euro kosten soll, „finanziert Boehringer deshalb auf freiwilliger Basis“, rühmt Blankau das Verantwortungsbewusstsein des Chemiekonzerns. Um dieses Engagement zu goutieren, schießt die Umweltbehörde den eher symbolischen Betrag von einer halben Million Euro dazu.
Ab Januar 2016 sollen nun drei Brunnen in der vergifteten Umgebung des ehemaligen Werksgeländes das belastete Wasser fördern, das anschließend gereinigt wird. Fast 40 Jahre wird es nach Prognosen von Fachleuten dann dauern, bis der eminent hohe Schadstoffgehalt überall auf einen ungefährlichen Bruchteil der heutigen Konzentration so stark abgesenkt ist, dass Mikroorganismen den Rest übernehmen können.
„Der Sanierungsvertrag ist ein Erfolg für alle Beteiligten“, freut sich Erika Rudolph von der Billstedter Bürgerinitiative und ein Moorfleeter Anwohner ergänzt: „Mehr kann man nach Stand der Technik nicht tun – wichtig ist, dass sich Boehringer nicht vom Acker gemacht hat.“ Auch Boehringer-Mitarbeiter Jörg Maier-Erbacher findet deshalb große Worte für das eigene Unternehmen: „Wir haben die Verantwortung für diesen Standort immer übernommen und werden das auch in Zukunft tun.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Jette Nietzard gibt sich kämpferisch
„Die Grüne Jugend wird auf die Barrikaden gehen“
Gründe für das Aus der SPD-Kanzler
Warum Scholz scheiterte