: Als es noch Westberlin gab
Differenter Blick auf die Stadt: Das Haus am Kleistpark zeigt „Die West-Berliner Jahre – Fotografien von André Kirchner 1981 bis 1990“. Im Projektraum werden „1980. In Berlin. Fotografien von Heiko Sievers“ vorgestellt
Von Brigitte Werneburg
Woraus besteht die Stadt? Die Antwort auf diese Frage scheint banal. Aber schaut man sich in den Ausstellungen aus Anlass des European Month of Photography um, dann wird deutlich, dass Fotografen und Fotografinnen diese Frage sehr unterschiedlich beantworten.
Das ist im Haus am Kleistpark zu beobachten, wo oben unterm Dach „Die West-Berliner Jahre – Fotografien von André Kirchner 1981 bis 1990“ zu sehen sind und im Projektraum im Erdgeschoss „1980. In Berlin. Fotografien von Heiko Sievers“. Heiko Sievers, der heute das Goethe-Institut in Neu-Delhi leitet, war in den 1980er Jahren Student an der FU und interessierter Amateurfotograf. Die ausgestellten Fotografien entwickelten sich zunächst aus flüchtigen Wahrnehmungen. Sievers beobachtet die Menschen auf der Straße und besonders gern die in der U-Bahn. Dort sitzen sie müde und in sich gekehrt. Die modische junge Frau, die ihre Tasche aus Gold- oder Silberlack lässig auf den Knien balanciert, genauso wie die alte Dame, die ihre Handtasche im festen Klammergriff hat.
Nachdem Sievers in die heute legendäre Werkstatt für Fotografie von Michael Schmidt in Berlin-Kreuzberg aufgenommen wurde, entwickelten sich diese Beobachtungen zum Projekt mit finalem Bildband (Heiko Sievers, 1980, In Berlin. Peperoni Books 2016, 84 Seiten, 32 Euro). Dort beantwortet sich auch die Frage, woraus für ihn die Stadt bestand: „Ausschließlich Grautöne – keinerlei Farbe und wohl auch wenig Zukunft.“ Das ist natürlich lange her, und der Fall der Mauer hat dieses Gefühl dann doch sehr gründlich vertrieben.
Ja, sie fallen auf, die vielen alten Menschen. Sie beherrschten das Straßenbild, drängten sich nicht immer wieder sehr junge Menschen dazwischen. Berlin, die Stadt der Rentner und Studenten. Und der Schwarzweißfotografie. Heiko Sievers, den alltäglichen Menschen geraubten Aufnahmen sind keine Porträts. Deshalb erzählen sie auch nicht deren Geschichte, sondern seine. Was er damals sah und fühlte in Berlin.
Für André Kirchner machen Westberlin in den 1980er Jahren seine Brachen, Baulücken und typischen Lückenbüßer-Architekturen an den Straßenecken aus: provisorische Architekturen wie die Texaco-Tankstelle an der Eisenacher Straße Ecke Grunewaldstraße. Anfang der 1990er Jahren wurde sie abgerissen. Danach, das weiß ich, weil ich in der Nähe wohne, kam eine Dönerbude. Jetzt wird gerade eines dieser Investorenhäuser mit den hochtrabenden Namen fertiggestellt. Ich könnte aktuell wohl zehn solcher Eckbebauungen allein in Schöneberg auflisten. Sehr wahrscheinlich, dass es allen Besuchern so geht und er oder sie ein Haus oder eine Straßenecke wiedererkennen, über deren Werdegang und heutige Gestalt sie ins Nachdenken kommen.
Anders als Heiko Sievers’ Fotografien haben Kirchners Aufnahmen Titel. Und so steht man zum Beispiel vor der Ansicht „Romantica, Potsdamer Straße“ (1985). Die Stadt besteht eben auch aus Wörtern. Kneipen haben Namen und Läden oder Handwerksbetriebe. Und „Kleinat Autoelektrik“ fällt hier dann viel mehr ins Auge als der geschwungene Schriftzug „Romantica“. Bis man ihn gefunden hat, stolperte man schon über das Wort „Engelhardt“ und die „Lido-Bar“. Jetzt ist man angefixt, sucht weiter und entdeckt im Stockwerk drüber die erhaben aufgebrachte, aber restlos verblichene Schrift der „Pension Excelsior“.
André Kirchners Blick auf die Stadt − auch in einem schön gestalteten Bildband nachzuvollziehen (André Kirchner, „Die West-Berliner Jahre – Fotografien 1981–1990“. Edition Braus 2018, 100 Seiten, 32 Euro) − ist methodisch, streng und nüchtern. Der zarte, feine Charme seiner Bilder scheint aus den fotografierten Objekten selbst zu diffundieren. Und deshalb nimmt man die Nahaufnahme der Wahlscheiben eines Automaten, die plötzlich die Reihung der Haus- und Straßenansichten unterbricht, zwar als regelwidrig wahr, zeigt sie doch keine Architektur. Gleichzeitig meint man in ihr die Quintessenz von André Kirchners fotografischer Idee der Stadt zu erkennen: Das Detail, das zündet, selbst und gerade wenn es üblicherweise nicht in den Bildvordergrund rückt. Dazu ist die Nahaufnahme auch die Quintessenz der Ausstellung selbst, erweist sich diese dem Namen des „Auswahl-Automaten“ entsprechend, den das Foto zeigt, selbst als ein solcher. Denn wie schon gesagt, jeder Besucher, jede Besucherin findet hier seine bzw. ihre besondere Ecke der Stadt.
Bis 16. Dezember, Haus am Kleistpark, Grundwaldstr. 6–7, Di.–So- 11–18 Uhr
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