Alpenüberquerung: An und über Grenzen
In sieben Tagen mit dem Hund über Berge und Landesgrenzen. Eine Wanderung vom Tegernsee bis Südtirol.
Der frühe Hund fängt das Murmeltier – nun ja, beinahe. Wir – Cookie, mein Jack-Russell-Rüde, und ich – sind auf dem Weg zum Pfitscherjoch. Wir haben den ersten Bus in der Früh von Mayrhofen im österreichischen Zillertal hinauf zum Schlegeisspeicher genommen und knapp 500 Höhenmeter vor uns. Mit jedem Schritt werden die Landschaft und die Berge rechts und links karger. Zwei mächtige Schieferfelsen im Flussbett des Zamser Grunds, durch den wir Meter für Meter höher schreiten, sehen aus wie versteinerte Schiffswracks. Überall stürzt Wasser aus den Felswänden in das V-förmige Tal und in den Fluss mit dem steinigen Grund.
Das Rauschen des Wassers ist unser ständiger Begleiter, bis uns plötzlich ein Kreischen innehalten lässt. Cookie stellt Ohren und Rute auf und blickt auf einen weiteren großen Felsblock zu unserer Linken. Dort steht es auf den Hinterläufen, das Fell etwas dunkler als das Schiefergrau des Gesteins: ein Murmeltier. Und grüßt. Oder besser gesagt: Es warnt. Cookie, der schon zur Jagd auf das Fellknäuel ansetzt, überlegt es sich nach einem weiteren Warnschrei anders und dreht ab. Wir ziehen weiter, das Murmeltier blickt uns noch eine Weile hinterher.
Es ist der sechste und vorletzte Tag unserer Alpenüberquerung. Hier, auf inzwischen über 2.000 Metern und oberhalb der Baumgrenze, ist es heute bewölkt und frisch. Gewitter und Regen sind angesagt, doch noch ist es trocken und das Wolkenfeld an manchen Stellen noch licht. Wir sind allein mit dem Murmeltier. Die wenigen Menschen, die mit uns im Bus gesessen haben, sind entweder andere Wege gegangen oder hinter uns außer Sichtweite.
Überhaupt nur etwa 40 andere Menschen überqueren seit dem ersten Tag auf derselben Strecke wie wir die Alpen. Die Hälfte von ihnen tut das in einer geführten Gruppe, die anderen zumeist in Zweiergruppen. Mal treffen wir sie auf einer der Almhütten auf der Route, mal im Hotel, in dem wir zu Abend essen und übernachten. Doch tagsüber sind wir seit dem zweiten Tag meist allein. Mit den Bergen, mit den Kühen, die hier oben weiden. Mit Ziegen, mit Berghühnern, allein mit Fauna und Flora der Alpen.
Die Alpenüberquerung Die Tour von Gmund am Tegernsee bis nach Sterzing in Südtirol ist vom Frühjahr bis in den Herbst hinein machbar. Im Prinzip kann man auf eigene Faust losziehen. Anzuraten ist, vorab Zimmer zu buchen. Etwas bequemer ist es, die Tour mit der Agentur Feuer & Eis zu organisieren. Sie bucht alle Unterkünfte, transportiert bei Bedarf Gepäck und bietet verschiedene geführte Wanderungen an in Gruppen, aber auch für Einzelpersonen. Mit einem Grundpreis ab 850 Euro pro Person für Unterkünfte, Frühstück und Abendessen. Für Hunde bezahlt man jeweils in den Hotels zwischen 4 und 25 Euro pro Übernachtung. feuer-eis-touristik.de/alpenueberquerung-tegernsee-sterzing
Einmal um den See
Das war am ersten Tag auf der Etappe über den Tegernseer Höhenweg und am Ufer des Tegernsees entlang bis nach Bad Wiessee noch ganz anders. 18 Kilometer durch eine der beliebtesten Urlaubsregionen Bayerns, vorbei an Touristen-Hotspots, bei 27 Grad mit 14 Kilo Gepäck auf dem Rücken. Abends im Bett schmerzen die Schultern und Hüftknochen ein wenig, zu meinen Füßen hat sich Cookie zusammengerollt und mag keine Pfote mehr vor die Tür setzen.
Auf dem Handy schaue ich alle Fotos an, die ich in den letzten Stunden gemacht habe. Ausblicke auf den in der Sonne glitzernden Tegernsee, auf die ersten Alpengipfel und Rottach-Egern, wo Entenscharen die Badebuchten belagern. Die meisten Touristen halten sich am oder auf dem Wasser auf. Dem russischen Oligarchen Alisher Usmanow, ein Putin-Vertrauter und wegen des Kriegs gegen die Ukraine sanktioniert, gehören vier herrschaftliche Villen direkt am See in Rottach-Egern. Klammheimlich hat er sie erst wenige Tage zuvor ausräumen lassen, denn beschlagnahmt sind sie noch nicht. Doch Krieg und Sanktionen sind an diesem Sommertag scheinbar weit weg. Alle hier sind in Urlaubsstimmung und ich gefühlt die einzige mit schwerem Gepäck und in Wanderstiefeln. Die stehen jetzt am Ende des Tages vorm Bett. Draußen entlädt sich ein Gewitter, krachend laut, ein Donnerschlag folgt ohne Pause auf jeden Blitz.
Die Regenwand ist so dicht, dass vom Hotelzimmer aus nicht einmal mehr die Straße zu sehen ist. Die Temperaturen fallen um 15 Grad. Für den nächsten Tag wird ab mittags das nächste Unwetter angekündigt. Ich beschließe, noch vor dem Frühstück um 7 Uhr aufzubrechen. Auf dem Programm stehen 17 Kilometer und 850 Höhenmeter über die Blaubergalm nach Achenkirch. Morgen früh wird der Rucksack um eine Dose Hundefutter leichter sein. Sage ich mir.
Der Puls steigt mit
Mutterseelenallein machen wir uns am nächsten Tag auf den Weg. Die kühle Luft tut gut nach der Hitze vom Vortag. Nur der Steig hoch zur Blaubergalm bringt mich ins Schwitzen. Der Puls steigt mit, und das Gewicht auf meinem Rücken macht sich wieder bemerkbar. Während ich mich anstrengen, auf jeden Schritt achten muss, springt Cookie den schmalen Wanderweg leichtfüßig wie eine Bergziege hinauf. Nur die ersten Kühe versetzen ihn kurz in Panik, weil sie sich keinen Zentimeter vom Weg wegbewegen und wir zwischen ihnen durchmüssen.
Um 9:30 Uhr erreichen wir die Blaubergalm auf 1.560 Meter. Kurz zuvor haben wir die Landesgrenze nach Österreich passiert. Ein bunt beklebtes Schild an einem Baum weist auf die grüne Grenze hin. In der Alm-Küche köchelt schon eine Graukäsesuppe für die Wanderer, sie riecht sehr käsig. Grau ist heute auch der Blick auf die Blauberge. Es ist kalt und zugig und immer wieder ziehen dichte Wolkenbänder durch die Sicht.
In der Almhütte ist es warm. Auf einem Tisch strampelt unter einem kleinen Zeltdach der vier Monate alte Nachwuchs. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es die Blaubergalm, seit drei Generationen ist sie im Besitz der Familie Sprenger. Heute sind Generation 2 und 3 gemeinsam am Schaffen. Die Frauen in der Küche, die Männer beim Vieh und in der Käserei, in die auch die junge Mutter verschwindet, nachdem wir mit Tee und Wasser versorgt sind. Sie sagt noch: „Manchmal kommen nur fünf Wanderer vorbei, an anderen Tagen sind es 100.“ Abhängig ist der Familienbetrieb nicht von den Wandersleuten. Die Familie lebt von den hier oben produzierten Milchprodukten, Schnäpsen, Speck, Wurst, frischem Brot sowie Nudeln, die sie nicht nur auf der Alm, sondern auch unten im Tal in einem kleinen Bauernladen verkauft.
Ein Gang noch zum Plumpsklo, dann machen wir uns weiter auf den Weg. Heute liegt nur noch der Abstieg vor uns, in den kommenden Tagen weitere Aufstiege vor uns. So schnell lassen sich die Alpen nicht überqueren. Sieben Tage lang wandern und kraxeln wir immer wieder auf und ab, über weite Strecken durch die Zillertaler Alpen in Österreich. Und so wie sich die Gipfel der Alpen wie spitze Hüte oder mächtige Quader vor dem Blick, der nach oben geht, türmen, so zeigen die Wege dorthin mit dem Blick nach unten vor die Füße eine ähnliche Struktur im Kleinen. Schieferplatten ragen teils senkrecht aus dem Boden und wollen um- oder übergangen werden genauso wie kräftige Baumwurzeln und kleinere und größere Felsbrocken. Eine Alpenüberquerung ist kein Spaziergang. Es ist eine Herausforderung, die von unten betrachtet immer die Frage aufwirft: Wie komme ich da rauf? Oder etwas ungläubig: Da muss ich rauf? Man geht über Grenzen. Geografisch von Deutschland nach Österreich und von Österreich nach Italien. Und glaubt jeden Tag, über die eigenen Grenzen gehen zu müssen.
Klitschnasse Felswände
Noch vor Regen und Gewitter schaffen wir es von der Blaubergalm bis nach Achenkirch. Im Alpin-Hotel der Familie Gründler werden wir abends mit einem köstlichen Drei-Gänge-Menü versorgt – in diesem Fall nur ich, Cookie leert eine weitere Dose. Während manche Familien im Ort neben der Landwirtschaft Zimmer mit Vollpension oder Ferienwohnungen anbieten, setzen die Gründlers komplett auf Hotellerie und Kulinarik. Ihr Restaurant ist am Abend ausgebucht, auch mit Gästen aus anderen Ortschaften. Die ganze Familie muss mit ran, bis zur Oma, die in einem schicken Dirndl serviert.
Am nächsten Morgen ist sie es, die mich schon vorzeitig ans Frühstückbuffet lässt. Draußen zeigt sich wieder die Sonne, es soll heiß werden und wir brechen deshalb erneut früh auf. Die dritte Etappe führt uns zunächst oberhalb entlang des türkisblauen Achensees. In den frühen Morgenstunden haben wir den schmalen Pfad bis nach Pertisau für uns allein. Vom Regen ist er nass und auf manchen Abschnitten rutschig, die steilen Felswände rechter Hand sind teils klitschnass und funkeln in der noch tiefstehenden Morgensonne genauso wie der See. Auch jetzt geht es stetig rauf und wieder runter, aber insgesamt sind es nur 200 Höhenmeter, die bewältigt werden müssen. Fast ein Spaziergang im Vergleich zum Vortag.
Von Pertisau geht es nahezu auf einer Höhe bis ans andere Ende des Sees nach Maurach. Und wo viel See, viel Wasser ist, sind auch wieder viele Touristen. Die meisten sind auf Fahrrädern unterwegs oder warten an den Anlegestellen auf die Dampfer, die den See mehrfach am Tag passieren. Sie sind auch für die Alpenüberquerer eine Alternative, wenn sie die Etappe verkürzen wollen. Die Temperaturen sind inzwischen wieder auf 27 Grad hinaufgeklettert. Bis sie um 14 Uhr die 30 Grad erreichen, haben wir mit dem Bus und der Zillertalbahn Fügen erreicht, den Ort, in dem wir heute übernachten.
Da in den nächsten drei Tagen Etappen mit vielen Höhenmetern anstehen, ruhen wir uns einfach in unserem Hotelzimmer aus bis zum Abendessen. Cookie ist es draußen viel zu warm, alle Viere von sich gestreckt liegt er auf dem kühlen Dielenboden und schläft. Selbst das Dorffest, das mit original Zillertaler Volksmusik zur angelehnten Balkontür hereinschwappt, bringt ihn nicht aus der Ruhe. Das Volk hält bis in die frühen Morgenstunden durch.
Die Naturdroge
Wir nehmen um 9 Uhr die erste Bergbahn zum Spieljoch hinauf auf 1.900 Meter, der Himmel ist blau bei angenehmen 18 Grad. In einer Tour geht es heute auf und ab mit überwältigenden Ausblicken auf das Karwendel, das Rofangebirge und den Wilden Kaiser. Es ist aber auch egal, wie all die Bergrücken und Gipfel heißen. Es ist das Naturschauspiel, das sie geben, die karge, aber mächtige Welt oberhalb der Baumgrenze, die nichts zu erschüttern scheint. Obwohl die Berge nicht ungefährlich sind, fühle ich mich sicher hier oben.
Und dann der Duft. Überall riecht es nach Wiesenkräutern, Meisterwurz, wildem Majoran, Giersch, Spitzwegerich, Huflattich, Scharfgarbe und mehr. Auch Cookie muss an allen schnüffeln. Blumen stehen in voller Blüte. Eine Almwiese ist schlicht umwerfend schön und berauschend, eine natürliche Droge, deren Anblick allein euphorisiert und beruhigt zugleich.
An einer der Wiesen, an der ich mich nicht sattsehen und -riechen kann, sprechen mich Alex (54) und Manu (57) an. Wir stellen fest, dass wir dieselben Strecken hinter und dasselbe Ziel vor uns haben. Die Alpen in sieben Tagen zu überqueren. Beide seien eigentlich nicht die typischen Wanderer, sagen sie, aber das wollten sie einmal schaffen. „Wir haben es immer wieder vor uns hergeschoben“, sagt Alex, bis sie einen Bericht im Fernsehen über diese Route gesehen hätten. „Da haben wir uns gesagt, jetzt müssen wir das machen. Wer weiß, wie lange wir das noch schaffen, wir werden ja nicht jünger“, sagt Manu.
Bis nach Hochfügen, unserem Tagesziel für heute, laufen wir zusammen weiter. Manu findet großen Gefallen daran, Cookie zu seinem Vergnügen kleine Steinchen zu werfen. In Hochfügen, eine einzige Ansammlung von Hotels, die sich hauptsächlich in der Wintersaison füllen, verabschieden wir uns bis zum nächsten Tag. Sie gehen ins Berghotel, wir in den Almhof, uns trennt allein ein riesiger, nahezu leerer Parkplatz.
Am höchsten Punkt
Für den nächsten Tag ist ab dem Mittag wieder schlechtes Wetter vorausgesagt. Gleich nach dem Frühstück um 7:30 Uhr machen wir uns auf dem Weg. Mit 2.127 Metern erreichen wir heute am Sidanjoch den höchsten Punkt der Überquerung. Die Familie der Pfundsalm, die wir vor dem letzten steilen Steig zum Joch passieren, muss zu sechst ausrücken und einen Ochsen wieder einfangen, der sich auf und davon gemacht hat. Aus der Tiefe einer Senke müssen sie ihn wieder hochtreiben. Er bockt, aber fügt sich schließlich. Cookie scheint seine Laune zu spüren und macht einen weiten Bogen um ihn herum, als er unseren Weg kreuzt.
Oben am Sidanjoch weht ein kalter Wind und es beginnt sich zuzuziehen. In der Rastkogelhütte wärme ich mich mit Tee auf, nach und nach tauchen nun auch die anderen Alpenüberquerer auf, auch Alex und Manu, die Cookie freudig begrüßt. Auf dem Abstieg beginnt es zu regnen, die Ausblicke verschwinden hinter Wolken und den Tropfen auf meinen Brillengläsern. Bis zum Melchboden geht es teils steil und rutschig bergab, nicht nur auf dem schmalen Steig, sondern auch immer wieder rechts und links. Cookie hält das nicht davon ab, jeder Fährte auf den Grund zu gehen.
Am Melchboden endet die 5. Etappe, in Mayrhofen, das wir mit dem Bus ansteuern und wo wir übernachten, ist es wieder viel zu warm. In den Nachrichten ist vom Gletscherabbruch in den Dolomiten und den Toten und Vermissten Bergsteigern die Rede. Am nächsten Morgen am Schlegeisspeicher sind wir weit entfernt vom gleichnamigen Gletscher am anderen Ende des Speichersees. Hinter einem Wolkenband ist schneeweiß seine Spitze zu sehen.
Wir haben es nun so gut wie geschafft. Noch einmal geht es auf knapp 2.280 Meter hinauf zum Pfitscherjoch, vorbei am Murmeltier und mit Rast auf der Lavitzalm, die von einer jungen Südtiroler Familie mit zwei kleinen Kindern betrieben wird. Unter vielem anderen gibt es bei ihnen köstlichen selbstgemachten Joghurt mit Obst aus eigenem Anbau und hausgemachter Marmelade. Oben am Joch passieren wir die nächste Grenze. Wir haben Italien, Südtirol erreicht und die Alpen überquert.
Wieder fegt uns ein eisiger Wind um die Ohren, bis uns runter ins Pfitschertal hört es nicht mehr auf zu regnen. Sonne begleitet uns am siebten Tag auf unserer letzten Etappe nach Sterzing, die nördlichste Stadt Italiens. Knapp 120 Kilometer und über 3.300 Höhenmeter haben wir zurückgelegt. Wir sind über Landesgrenzen gegangen und auch mal über eigene Grenzen. Aber alles fühlt sich gut an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut