Alltag in Russland in Kriegszeiten: Wenn alle Kollegen im Ausland sind

Hunderttausende Russen haben seit der Teilmobilmachung ihr Land verlassen. Deshalb muss unsere Autorin jetzt wieder mehr per Videocall arbeiten.

Riesige Füsse eines Atlas Denkmals in Petersburg im Schnee, dahinter 2 Nationalgardisten

Stehengeblieben: Atlas in St. Petersburg Foto: Dmitri Lovetsky/ap

Der Dezember ist ein verrückter Monat. Die Arbeit vervielfacht sich irgendwie, die Deadlines stressen, und der größte Wunsch für die Feiertage ist: ausschlafen. Dieses Jahr macht da keine Ausnahme: Jobevents, Kulturveranstaltungen, Promo-Aktionen und wissenschaftliche Konferenzen gibt es auch in Kriegszeiten. Die hektische Zeit für die Kreativbranche und Event-Agenturen hat wieder begonnen.

Für mich beginnt gleich ein Arbeitstreffen für ein neues Projekt. Ich sitze vor dem Monitor in meinem leeren Büro und warte, dass die Kollegen über Videoschalte dazukommen: der Cutter aus Kasachstan, der Grafiker aus Georgien und der Drehbuchautor aus der Türkei. Ich mache Witze, dass unsere kleine Videoproduktionsfirma internationales Niveau erreicht hat. Nur wenige Tage nach Bekanntgabe der Teilmobilmachung in Russland hat unsere Firma lauter kleine Standorte im Ausland bekommen.

Während der Pandemie haben wir alle gelernt, aus der Ferne zu arbeiten. Aber es war trotzdem eine Erleichterung, als wir in den Offline-Modus zurückkehren konnten. Keine Videokonferenz kann die direkte Zusammenarbeit ersetzen, bei der man einfach mit dem Finger auf den Monitor zeigen kann, um schnell etwas zu erklären.

Jetzt sind eben diese Videokonferenzen wieder integraler Bestandteil unseres Lebens geworden, und das Büro ist wieder leer. Die Kollegen, die wegen des Krieges das Land verlassen haben, verdienen ihr Geld immer noch mit Aufträgen aus Russland. Und ich chatte gleichzeitig mit zehn verschiedenen Leuten aus verschiedenen Zeitzonen.

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„Ist alles klar mit der Aufgabe? Wann kannst du schicken?“

„Um acht“

„Moskauer oder georgische Zeit?“

Einigen Berichten zufolge hat im September 2022 rund eine Million Menschen Russland verlassen. Gefühlt ist rund ein Drittel meiner Kollegen aus Videoproduktionsfirmen, aus der Kino- und Reklamebranche ausgereist.

Einen Kameramann zu finden, ist dadurch ziemlich schwierig geworden. Die Verbliebenen sind jetzt sehr gefragt. Regisseure, Producer, Tontechniker, Beleuchter, Videotechniker, Texter – längst nicht mit allen kann man remote arbeiten. Ein großer Teil der Spezialisten muss direkt am Produktionsort sein. Darum erhöhen die, die noch da sind, ihre Honorarsätze, obwohl sie nicht immer auf hohem Niveau arbeiten.

Ich beende die Videoschalte. Im Büro ist es so still, dass ich den Schneesturm vor dem Fenster hören kann. Ich vermisse die anderen. In der Teeküche quatschen, freitags Pizza bestellen und die letzten Trailer besprechen klappt per Videocall nicht so wirklich gut. Ich schreibe eine Nachricht nach Kasachstan:

„Was meinst Du – kommst Du irgendwann zurück?“

„Ich komme zurück. Ich bin zu schnell weggefahren, um nicht wiederzukommen.“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht

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ist Journalistin und Videoproduzentin. Sie lebt und arbeitet in St. Petersburg.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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