Alltag in Corona-Zeiten: Eigentlich sind jetzt Ferien
Anstrengend, diese soziale Fragen! Kontaktverbot für Kinder, viele sind streng, andere haben eine „Virengruppe“ oder verabreden sich zum Rollern.
N ach exakt drei in Gesellschaft von Mann und Kindern zugebrachten Wochen treffe ich eine Freundin zum abendlichen Spaziergang. Wir schreiten auf Abstand, wagen kaum den Seitenblick und haben Schals vorm Gesicht. Wir gehen drei Stunden lang, es ist nötig. Das berauschende Gefühl des Fastverbotenen. Aber dann eine achtköpfige Jungspunt-Truppe, die über die Brücke gezogen kommt, in enger Formation zum Ghettoblaster tanzt und offensiv die Bierflaschen in die Luft reckt. Die aufsteigenden Gefühle – Belustigung, Verständnis, Unverständnis, Düpiertheit, Wut – lassen sich in ihrer Gleichzeitigkeit nicht verarbeiten.
„Wir rechnen mit weiterführenden Entscheidungen am 14. April“, schreibt der Schulleiter in einer Rundmail. „Möge sich die Ausbreitung von Corona so verlangsamen, dass wir schrittweise wieder zur Normalität zurückkehren können.“ Schrittweise. Oooookay. Es ist warm, der nächste Dürresommer kündigt sich an, alle radeln, rollern und bladen mit ihren Kindern durch den Kiez. Über die einsfünfzig hinweg begrüßen wir andere Schul- und Kitafamilien mit großem Hallo und beäugen uns: Wer dreht schon durch, wer quillt schon auf, wer glaubt noch an den 19. April? Den 1. Mai? Das neue Schuljahr?
Auf Facebook fragt ein Facebook-Freund: Wie haltet ihr’s mit dem Kontaktverbot für eure Kinder? Viele sind streng. Andere aber haben eine „Virengruppe“ oder verabreden sich zum Radeln, Rollern oder Bladen. Schießen wir die Kinder in die Umlaufbahn der Einsamkeit? Sind wir doch unsolidarische Säue, weil wir anderen Eltern in stressigerer Jobsituation die Kinder nicht abnehmen? Spießer, weil wir uns so wohlfeil mit uns selbst begnügen? Wie anstrengend, diese sozialen Fragen! Könnte das mit dem strikt verordneten Distancing bitte doch noch etwas länger dauern?
Der Betreiber des „Ersten Antirassismus-Späti der Welt“ auf der Reichenberger Straße hat einen Zettel ans Fenster gehängt. „Brauchst du Hilfe? Do you need help?“ Und dann, so schlicht wie ergreifend, vier Telefonnummern: vom Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, vom Kinder- und Jugendtelefon, von der Hilfenummer Depression und der Telefonseelsorge. Ich korrigiere meine selbstgefälligen Wünsche: Das mit dem Distancing soll bitte doch ganz schnell vorbei sein.
McDrive hat viel zu tun
Flucht vor all den Ambivalenzen, in die Uckermark, zur Minidatsche in siebter Reihe am See. Ab Lanke sind wir allein auf der Autobahn. Es ist wie in einem postapokalyptischen Film. Wir schleifen Bretterböden ab, pinseln Bretterwände an, pflanzen Beerensträucher und eine Kriechende Säckelblume, schaffen den Kindern eine Zukunft. Das Gras auf der Wiese ist jetzt schon vertrocknet.
Wir sind zu spät zurück in der Stadt, um noch die Süßkartoffeln in den Ofen zu schieben. Nach all den Wochen mit drei gestemmten Mahlzeiten pro Tag knicken wir ein und stellen uns in die McDrive-Schlange. Hinter uns stehen Radler. Die Mitarbeiter sind ganz rotglasiert im Gesicht und meinen, so viel hätten sie noch nie zu tun gehabt.
Vor lauter Stress stopfen sie Jalapeños in die Cheese-Burger der Kinder. Zu Hause gibt es zusätzlich zum Papiermüllberg Tränen. Wir überkompensieren am nächsten Tag und kochen Vulkanspargel aus dem Biomarkt. Wieder gibt es Tränen. Erst der Lidl-Backcamembert bringt die Dinge halbwegs ins Lot.
Unser Corona-Wochenplan am Kühlschrank wird nicht aktualisiert. Eigentlich sind jetzt Ferien. Sagen wir den Kindern aber nicht. Nach Gusto und Notwendigkeit streuen wir Schulstunden in die Tage. Verteilen Aufgaben, klappen das MiniLük auf, starten die Anton-App, rühren den Klangstab als Schulglockenersatz. Etappenziel Karfreitag. Da sendet radioeins 14 Stunden am Stück „Songs für die Seele“, Motto: Emotional Rescue.
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