Zunehmender Corona-Disziplinverlust: Keiner hält sich an Einsfünfzig
Wir stehen immer später auf, die Kinder gehen immer später ins Bett. Den U-40-Jährigen in Berlin ist die Lust am Abstandhalten abhanden gekommen.

E s ist ein ewiges Jetzt. Der stahlblaue Himmel mit der unbarmherzigen Sonne darin. Die braunen Frühjahrswiesen in den ewig gleichen Parks, in die wir stolpern, um das ewig Gleiche zu tun: Inlineskaten, Roller fahren, Pässe kicken, Studentenfutter essen, aus Doppler-Flaschen trinken, Fotos machen und per WhatsApp an einsame und kranke Freunde verschicken. Görlitzer Park, Treptower Park, Hasenheide, Viktoriapark, Tempelhofer Feld, Zickenplatz. Und wieder von vorn.
Die Boulevardpresse meldet: Kitas zu bis August. In die Grundschulen ab Mai erst mal nur Sechstklässler. Ich höre schon fast nicht mehr hin. Oder sollte mein tastendes Tun doch systemrelevanter Journalismus sein? Wahrscheinlicher: Alles bleibt, wie es ist, für immer und ewig. Vielleicht brauchten wir die „Hasenschänke“ nie wirklich, vielleicht ist es gut und richtig, dass das ausladende Vordach des kultigen Kiosks jetzt Zelte, Matratzen, Schlafsäcke und Biervorräte vor dem ausbleibenden Regen schützt.
Vielleicht ist es gut und wichtig, dass wir die Lust am braven Mahlzeiten-Zubereiten verlieren, dass im bislang stolz ungenutzten Gefrierfach nun Pommes lagern, Dumplings und Tortellini. Wir stehen immer später auf, die Kinder gehen immer später ins Bett.
Sie müssen ihren „Corona-Plan“ – einstmals von uns als Schul-Sport-Kunstprogramm eingeführt – streng befolgen, und wenn die „Sendung mit der Maus“ noch nicht gesehen und die acht Runden Mariokart noch nicht gefahren sind, ist das Tagwerk nicht vollbracht.
Aber etwas ändert sich doch, am Wochenende: Es kollabiert das eherne Abstandsgesetz. Gefühlt kein Schwein hält sich mehr an die Einsfünzig, nicht auf dem Trottoir, nicht beim Radeln, nicht beim Schlangestehen. Besonders den U-40-Jährigen scheint die neue Lust am Achtsamsein völlig abhandengekommen zu sein.
Sie tauschen empörte Blicke
Die Kinder in ihrem diktatorischen Regelflow sind entrüstet. Sie tauschen empörte Blicke, ziehen scharf die Luft ein, erwarten, dass ich die holzigen Mitmenschen ermahne. Ich sage nur dumpf: „Zieht doch bitte, wenn wir gleich bei Getränke Hoffmann Apfelsaft kaufen, eure schönen Masken an, ja?“ Derweil lädt die Bürogemeinschaft zum „Zoom-Plaudern“, die alte Schule zum „Virtuellen Klassentreffen“ und die Kita zum „Morgenkreis im Zoom-Meeting“. Ächz.
Es taugt mir alles nichts, selbst den Kindern nicht, sie würgen mittlerweile ihre Schul- und Kitafreund*innen nach zwei Minuten am Telefon ab und wollen nicht mal mehr mit Oma und Opa skypen. Zum Glück hängen auf der Reuterstraße noch analoge, handfest besprayte Transpi-Laken aus den Fenstern: #leavenoonebehind. Ich fürchte aber, die politisch Verantwortlichen haben trotzdem nicht begriffen, worauf sich diese so vage wie fremdsprachige Forderung bezieht und dass fast 50 Kinder aus Griechenland nicht reichen.
Auf der Pannierstraße künden sonnengebleichte Plakate von einer Vergangenheit, die nie stattgefunden hat. Pantha du Prince in der Volksbühne, Ende März, ich wollte hin, um mir anzugucken, ob der heuer zottelige Hendrik Weber noch ein My seiner ehedem auf Sankt Pauli so berückenden Schönheit bewahrt hat. Das Konzert wurde verschoben. Es ist allerdings vorstellbar, dass mir die Überprüfung des äußeren Erscheinungsbilds von Herrn Weber im November nicht mehr wichtig genug für eine Fahrt nach Mitte sein wird.
Derweil fegen Staubstürme durch die Parks, die Lippen springen auf in der sengenden Aprilsonne, die Böden zeigen Risse, die Waldbrände kommen näher, die Apokalypse entfaltet sich vielgestaltig. „Gieß doch einfach wieder die Straßenbäume“, rät der Mann, rät die Therapeutin. Mach ich. Die Kinder finden es lustig, weil ich auf dem Weg nach draußen, zwei Putzeimer schleppend, in der Tordurchfahrt Wasser verschlabbere.
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