Alkoholfrei als Trend: Knallt auch ohne Alk
Trendbewegungen wie #sobercurious oder Mindful Drinking setzen auf antialkoholischen Genuss. Sie werben für einen reflektierten Konsum.
Zu Besuch im Null-Prozent-Späti, dem ersten alkoholfreien Kiosk Deutschlands. Hier begrüßt mich Chefin Isabella Steiner. Die 32-Jährige trägt eine große Brille und einen Seemannspulli, sie ist so etwas wie die Galionsfigur der Mindful-Drinking-Bewegung in Deutschland. Dieser neue Trend der Food-Szene will das eigene Trinkverhalten reflektieren – und liefert dafür Getränke, die geschmacklich so anspruchsvoll und erwachsen sind, dass sie eine echte Alternative zu Wein, Bier und Spirituosen darstellen.
Mich interessiert das sehr, schließlich werden spätestens seit meinem 30. Geburtstag die Kater immer fieser. Zudem fällt mir auf: Wenn ich auf einer Party mal nichts trinken möchte, sind meist alle wahnsinnig enttäuscht oder fragen, ob bei mir alles in Ordnung ist. Und es gibt immer diese eine anstrengende Ach-komm-ein-kleiner-geht-doch-Person. Wenn wir kollektiv so krampfhaft am Alkohol hängen, müssen wir dann nicht erst recht unseren Konsum hinterfragen?
Im Lagerraum des Null-Prozent-Späti setzen wir uns auf Kästen des alkoholfreien Biersortiments. Steiner leitet die Firma nüchtern.berlin, zu der neben dem Späti auch ein Onlineshop gehört. „Unsere Mission ist es, den alkoholfreien Lebensstil gesellschaftsfähig und cool zu machen. Alkoholfrei ist das neue vegan!“, behauptet sie.
Steiner hat Soziologie studiert und arbeitete danach in der PR. 2015 fiel ihr der Hashtag #sobercurious auf, als die ersten Spirituosen-Alternativen den angelsächsischen Raum eroberten. Wie zum Beispiel Seedlip, ein komplexes Destillat aus Kräutern, Pflanzen und Früchten, mit dem sich Longdrinks und Cocktails mixen lassen, die alkoholfrei, aber nicht zu süß sind. Lange seien alkoholfreie Getränke kindlich oder unschuldig konnotiert gewesen, sagt Steiner, das zeige sich auch in den Namen: Kindersekt, Virgin Colada, Safer Sex on the Beach. „Alkoholfrei hat ein Imageproblem wie die Deutsche Bahn.“
Alkoholfreier Aperol und Martini
Seit Steiner 2019 nüchtern.berlin gründete, versuchen sie und ihr Team das Thema aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Deswegen sieht ihr Laden im gediegenen Berliner Bergmannkiez auch eher aus wie ein hipper Concept Store und nicht wie ein echter Berliner Späti. Vor den Backsteinwänden stehen Industrieregale, gefüllt mit schick designten Flaschen. „Es geht darum, den Leuten zu zeigen: Es gibt wirklich hochwertige, leckere Alternativen.“
Und wie es die gibt! Zunächst wären da pflanzliche Destillate wie eben Seedlip. Manche von ihnen versuchen den Geschmack von bekannten Spirituosen wie Gin, Whisky oder Rum zu imitieren, andere kreieren ein eigenes Geschmacksprofil, sie nennen sich Botanicals. Eine Flasche kostet um die 20 Euro. Aperol und Martini kann man im Null-Prozent-Späti ebenfalls kaufen – die Marken haben auf den Trend reagiert und alkoholfreie Varianten ihrer beliebten Aperitifs auf den Markt gebracht.
Zusätzlich bietet der Laden alkoholfreies Bier sowie eine große Auswahl an entalkoholisierten Weinen, raffinierten Limonaden und Luxussäften an. Galipette (0,33 ml für 2,90 Euro) etwa ist ein aus französischem Mostapfelsaft gewonnener alkoholfreier Cidre, der im Weinglas herrlich sprudelt.
Das Sortiment wird immer wieder erweitert. Als Isabella Steiner 2019 anfing, gab es bloß ein Viertel der heutigen Produktauswahl. „Gefühlt jedes Weingut und Food-Start-up versucht gerade, etwas Alkoholfreies auf den Markt zu bringen“, sagt Steiner. „Dieses Jahr könnten Rum-Alternativen ganz groß werden.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mit Wein macht nüchtern.berlin den größten Umsatz. Hier hat sich einiges getan: Manche Schaumweine wie der Feel Free Sekt von Sektmanufaktur (8,90 Euro) oder der Cuvée Blanc prickelnd von Kolonne Null (13,90 Euro) schmecken mir so gut, dass ich jederzeit einen gleichwertigen Sekt mit Alkohol dafür eintauschen würde. Sie sind weder zu süß, noch haben sie weniger Perlage. Bei den Weinen fällt vor allem der Name Carl Jung ins Auge. Der hat in diesem Fall nichts mit Psychoanalyse zu tun – das Weingut gleichen Namens gilt als Erfinder des Verfahrens, nach dem die meisten alkoholfreien Weine produziert werden. Patentiert wurde das übrigens schon 1907.
Auch alkoholfreier Naturwein ist auf dem Markt, hier wird aber oft gar nicht auf Weinbasis gearbeitet, sondern mit Säften, Kombucha und anderen fermentierten Kulturen experimentiert. Die erhält man in Berlin dann nicht im Null-Prozent-Späti, sondern im Mindful Drinking Club oder in spezialisierten Weinhandlungen. Mit dem Zeroliq gibt es zudem die erste komplett alkoholfreie Bar.
Produktion von alkfreiem Bier hat sich verdoppelt
Alkoholfrei trinken ist also ein veritabler Trend. Auch die biertrinkende Masse scheint das erkannt zu haben: Die Produktion von alkoholfreiem Bier hat sich in Deutschland von 2009 bis 2019 fast verdoppelt. Das ist erstaunlich für eine Gesellschaft, in der das Progressive oft vorschnell als Verbot abgekanzelt wird. Doch gerade beim Thema Alkohol ist ein Umdenken angebracht. Denn übermäßiger Konsum, der nun mal unzweifelhaft ungesund ist, wird in Deutschland nicht nur toleriert, sondern weggelächelt. Wer einen Kater hat, gilt offiziell als krank, wurde 2019 am Oberlandesgericht Frankfurt entschieden. Macht sich also freiwillig krank, wer trinkt?
Die Mindful-Drinking-Bewegung sieht sich selbst nicht als Gesundheitsbewegung, sondern wirbt für ein Reflektieren und Anpassen des Konsums an die eigenen Bedürfnisse, frei von gesellschaftlichen Zwängen. Damit reiht sie sich in die Achtsamkeitswelle ein, die in der westlichen Welt schon länger Einzug gehalten hat und in den vergangenen Jahren zu einem regelrechten Hype (und oftmals auch Geschäftsmodell) geworden ist.
In der postmodernen Gesellschaft sucht der Mensch sein Glück in der Optimierung des eigenen (Er-)Lebens durch Achtsamkeit. In seinem 2020 veröffentlichten, maximal gegenwärtigen Roman „Allegro Pastell“ karikiert Leif Randt diesen Wunsch nach vollkommener Achtsamkeit, indem er ein Pärchen beschreibt, das schweigend eine Teezeremonie abhält, um sich gegenseitig besser zu spüren – eine solche Romantisierung der Abstinenz lässt sich auch in die Anfänge von #sobercurious hineininterpretieren.
Doch Mindful Drinking strebt nicht nach der spartanischen Strenge dauerhafter Abstinenz, sondern nach Genuss. Viele der Drinks aus dem Null-Prozent-Späti schmecken so gut, dass man noch mehr will, und das regt zum Nachdenken an: Wenn alkoholfrei so gut sein kann – warum trinke ich dann eigentlich?
Auch Isabella Steiner trinkt weiterhin gerne Alkohol. Nur der Morgen danach nervt sie immer wieder. Nach Silvester hatte sie zuletzt einen „epischen Kater“ und machte daraufhin einen Dry January – der abstinente Januar ist heute für viele eine Einstiegsrampe in einen bewussteren Umgang mit Alkoholkonsum.
Den Null-Prozent-Späti verlasse ich mit einem Sekt für die nächste Dinnerparty. Ich habe ein Experiment vor: Mal schauen, ob meine Freund:innen überhaupt merken, dass da keine Prozente drin sind. Alkohol braucht keine Verbote wie beim Rauchen, sondern eine Debatte darüber, was uns guttut. Vielleicht können sich durch Mindful Drinking auch die gesellschaftlichen Zwänge rund um Alkohol etwas lockern. Allein schon, damit es nicht mehr cringe ist, auf einer Party zu sagen: Ich trink’ heute mal nicht.
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