Aleida Assmann über Erinnerungskultur: Kollidierende Gedächtnisse
Zeitzeugen sterben, die Deutungshoheit der 68er schwindet. Wie erinnern wir uns, welche Wirkungen hat das? Aleida Assmann interveniert.
![](https://taz.de/picture/140830/14/Erinnerungskultur_Assmann.jpg)
Wie erinnern wir uns heute an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust? Es gibt kaum noch Zeitzeugen, die berichten können, und je weiter diese Ereignisse zurückliegen, umso schwieriger ist die Erinnerung lebendig zu halten und abstraktes Wissen an die Jüngeren zu vermitteln. Dieser Umstand gepaart mit der Eurokrise und dem immer unverblümteren Rassismus in Politik und Gesellschaft erzeugt unter Intellektuellen ein wachsendes Unbehagen: Wie soll es weitergehen mit unserem Geschichtsbewusstsein?
In ihrem neuen Buch analysiert Aleida Assmann den aktuellen Diskurs über die Erinnerungskultur: nüchtern, streitbar und konstruktiv. Sie hält es für ein „verbreitetes und hartnäckiges Missverständnis“, dass Erinnern eine rückwärtsgewandte Haltung sei, die an der Vergangenheit klebe und die Zukunft verstelle. Erinnerung, so sagt sie, sei ein dynamischer Prozess und nehme stets neue Formen an.
Die Literaturprofessorin beschreibt die veränderte bundesrepublikanische Haltung zum Holocaust – nach 1945 hätten die Deutschen sich zunächst selbst als Opfer des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen, spätestens ab 1985 wäre jedoch das Leid der jüdischen Opfer in den Mittelpunkt gerückt. Die 68er-Generation brach das Schweigen der Eltern und zog unter die Vergangenheit einen „moralischen Trennungsstrich“; selbst ideologisiert, hätten sie ihren Eltern in einer Art reenactment vorgelebt, wie diese sich in der Nazi-Zeit hätten verhalten sollen.
Aleida Assmann: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“. C. H. Beck, München 2013, 231 S., 16,95 Euro
Assmann nimmt die in letzter Zeit so häufig in die Kritik geratene zweite Generation jedoch in Schutz, schuf sie ihrer Ansicht nach doch die Voraussetzungen für die dritte Generation, sich nun ohne Abspaltungen mit der eigenen Familiengeschichte und Herkunftswelt zu befassen. Die Autorin übersieht dabei, dass in den meisten Familien über die Rolle der eigenen Verwandten im Zweiten Weltkrieg bis heute weiter geschwiegen wird.
Assmann macht deutlich, warum sie Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ als Erinnerungsmaterial für untauglich hält. Sie differenziert, welchen Inhalt und Rahmen die Erinnerung braucht, um sinnvoll zu sein. Dabei widerspricht sie dem Soziologen Harald Welzer, der das Erinnern auf offizielle Akte von Funktionären und Politikern reduziere. Für sie sind solche Rituale zwar auch notwendig, vor allem aber vertraut sie der Vitalität zivilgesellschaftlicher Initiativen wie z. B. lokalen Geschichtsprojekten (Stolpersteine usw.), die auch die jüngere Generation einbeziehen und einen aktiven Bezug zur Vergangenheit herstellen. In ihrem Bild von einer beweglichen Erinnerung finden auch Migranten ihren Platz.
Anders als die meisten Historiker zieht Assmann keine Grenze zwischen methodisch aufgearbeiteter Geschichte und persönlichem Gedächtnis, vielmehr betrachtet sie sie zu Recht als komplementär. Sie konstatiert eine weitere „eklatante Spaltung“, für deren Aufhebung sie plädiert: das asymmetrische Gedenken an die beiden Kernereignisse des 20. Jahrhunderts, Holocaust und Stalinismus.
Konkurrierende nationale Legenden
Sie räumt ein, dass Unbehagen dort berechtigt sei, wo beabsichtigt ist, eines der beiden Ereignisse zu relativieren oder zu trivialisieren. Ihr geht es keineswegs um Nivellierung, sondern darum, die Opferkonkurrenz zwischen West- und Osteuropa zu beenden und zu einem gemeinsamen, verbindenden europäischen Gedenken zu gelangen: „Die europäische Integration [kann] nicht wirklich fortschreiten …, solange sich die monologischen Gedächtniskonstruktionen der Mitgliedsstaaten weiter verfestigen und miteinander kollidieren.“
Sie schlägt deshalb ein „dialogisches Erinnern“ vor, worunter sie eine „wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte“ versteht.
Assmann nennt ihren Beitrag eine Intervention. Man muss ihr für diese Intervention danken, denn sie kommt zur rechten Zeit und mit den richtigen Botschaften. Die gesellschaftlichen Spaltungs- und Ent-Solidarisierungsprozesse in Deutschland und Europa verlangen dringend nach einem integrativen Ansatz, der die Pluralität der Perspektiven anerkennt und die Vergangenheit aktiv mit der Gegenwart verbindet. Nur so kann die Erinnerung auch der Zukunft dienen.
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