Album und Theatermusik von CocoRosie: Teufelsinsel und Nimmerland

Das US-Duo CocoRosie ist zurück mit seinem grandiosen Album „Tales of a GrassWidow“ und dem Soundtrack für „Peter Pan“ am Berliner Ensemble.

Nehmen gerne verzweigte Nebenstraßen: CocoRosie. Bild: Rodrigo Jardon

Alfred Dreyfus war ihr berühmtester Insasse. Und beileibe nicht der einzige Unschuldige, der dort unter unmenschlichen Bedingungen schmorte. Die Rede ist von Devil’s Island, der berüchtigten, vor der Küste von Französisch-Guyana liegenden Gefängnisinsel. Ein Stück alte Welt in der neuen Welt. Besungen wird dieses besonders düstere Kapitel der Kolonialgeschichte von CocoRosie auf ihrem bald erscheinenden neuen Album „Tales of a GrassWidow“.

Man muss schon genau nach „Devil’s Island“ suchen, es ist ein Hidden Track, der sich ganz am Ende des Albums verbirgt. Erst gilt es zwölf Minuten peinsamer Stille zu überstehen, nach „Poison“ dem vermeintlichen Finale. Plötzlich beginnt ein triumphal übersteuerter Shuffle-Beat – Aphex Twin hätte ihn nicht fieser und schwindliger programmieren können – und zerfasert friedlich bimmelnde Glockentöne, während die kindlich anmutende Stimme von Bianca Casady schon mit einer unheimlichen Seelenruhe deklamiert „I have only eyes for you“.

Toll, wie es CocoRosie damit ganz selbstverständlich gelingt, einen Song gleichzeitig knallig und wattiert klingen zu lassen. Wie sie es schaffen, ohne falsche Rührung einen Songtext über Menschen zu schreiben, die vor der Gesellschaft weggeschlossen werden, unsichtbar gemacht werden, die verlassen sind von Gott und der Welt.

Dunkle Romantik, kindliche Naivität, aber auch Einsamkeit, Tod und Verderben, all das sind wiederkehrende Themen im Oeuvre des Schwesternduos, das mit seiner Musik schon immer die Zukunft schrankenlos mit der Vergangenheit zu verschränken wusste.

Amalgan aus mehreren Songs

So auch mit „Devil’s Island“, einem Amalgam aus mehreren CocoRosie-Songs – sie dürfen sich inzwischen auch selbst zitieren. Anklänge an ihren Lullaby „Happy Eyez“ tauchen auf, zwischendrin stößt auch eine Live-Aufnahme von „End of Time“ durch die morsche Klangdecke, ebenfalls ein Stück vom neuen Album. Bis man seine Fassung wieder zurückgewonnen hat, hat sich „Devil’s Island“, dieser Phonsturm von einem Song, wieder gelegt. Keine Frage, es ist einer der Tracks des Jahres.

Sierra Casady klärt auf: „Die Stille nach ’Poison‘ währt zwölf Minuten und zwölf Sekunden, als Erinnerung an den 12. 12. 2012, den Tag der Aufnahme. Unsere Arbeiten am Album waren eigentlich schon abgeschlossen. Damals sollte ja der letzte Tag auf Erden sein. Nicht für uns, im Gegenteil, ,Devil’s Island‘ markiert einen Anfangspunkt. Das Ende von etwas ist eine Erschütterung, die einen Neuanfang einleitet. Ein sehr feierlicher Moment.“

Bianca und Sierra Casady sitzen im Büro ihrer Berliner Plattenfirma. Aufgeräumt wirken sie, konzentriert, neugierig und überaus positiv gestimmt. Das war nicht immer der Fall bei Interviews. „Wir antworten, indem wir Hoffnung spenden und Heilung für alle, die dies akzeptieren möchten“, sagt Bianca Casady, aber sie klingt dabei nicht sonderlich salbungsvoll.

Die Antwort bezieht sich auf den Song „Tears for Animals“ und seine existenzphilosophische Anwerfung „Do you have love for human kind?“. CocoRosie mögen hermetisch wirken, mit ihren von Märchenwesen und Schauerromantikelementen bevölkerten Bilderwelt. Aber die Musik sagt eindeutig ja.

Singende Ergriffenheit

„Tears for Animals“ steht in der Chronologie des Albums an zweiter Stelle. Und Sierra Casady beantwortet die Frage aus dem Songtext zusammen mit ihrem Freund Antony Hegarty mit einem gerüttelt Maß an singender Ergriffenheit. „Wie bei einem Gebet hegen wir eine Spur Hoffnung. Es ist ein langer Prozess, und wir sind ein Teil davon“, erklärt Sierra Casady. Eingängig ist dieser Song, was auch am Beatboxing des französischen HipHop-Musikers Tez liegt, der wieder mit von der Partie ist. „’Tears for Animals‘ ist Musik, die mich in Bewegung versetzt“, sagt Sierra Casady.

„Tales of a GrassWidow“ ist das fünfte Album von CocoRosie, aber das erste in ihrer nun zehn Jahre währenden Karriere, das eine klare Dancefloor-Schlagseite hat. Nicht straight, nicht stur geradeaus, was die Rhythmen und die Melodien angeht, CocoRosie nahmen schon immer die verzweigten Nebenstraßen, verzettelten sich gerne in filigranen Details.

So auch auf „Tales of a GrassWidow“, wo manchmal auch zu viele Hirtenflötentöne frei stehen bleiben. Zum Glück gibt es für jeden Anflug von Kitsch als Gegenentwurf Autotune-Effekte für die Stimmen. Wird der omnipräsente Piano-Naturalismus mit schneidenden Synthie-Melodien zerteilt. Was sie unter Dancefloor verstehen, will ich wissen. „Les Mystères de Voix Bulgares“, sagt Sierra Casady. „Diese Musik bringt mich zum Tanzen, sie elektrisiert mich. Die Stimmen machen mich regelrecht aggressiv.“

„Gravediggress, dig me a hole I can bury / All my love in / All of my holy“ heißt es in der ersten Singleauskoppelung „The Gravediggress“. Bianca Casady zoomt sich in diesem Text in die Zukunft und stellt sich ihr Kind vor, das sie selbst als alte Frau anspricht.

„Die Worte zerrinnen ihr wie Sand in der Hand“

Sierra liefert die Begleitumstände: „Der Song erinnert mich an einen frühen Morgen, Bianca sitzt vor ihrer Schreibmaschine in Paris und tippt, setzt Worte auf Papier zusammen, dann schneidet sie diese mit der Schere aus und arrangiert sie neu. Die Worte zerrinnen ihr wie Sand in der Hand. Man denkt an etwas, und je mehr man Gedanken daran verschwendet, desto drastischer fällt alles auseinander.“

Trotz aller Drastik, trotz allen Zerfalls, die Musik von CocoRosie fühlt sich altersloser denn je an, sie klingt, als sei sie unterwegs im Auftrag ewiger Jugend. Ihr Leitmotiv sei „transformative Ekstase im Angesicht von Verwahrlosung“, haben CocoRosie ihrem neuen Album vorausgeschickt. Da mag es auch nicht verwundern, dass die beiden Künsterlinnen in dem Dramaturgen Robert Wilson einen „Seelenverwandten“ (Sierra Casady) auserkoren haben. Er hat CocoRosie engagiert, um für seine Inszenierung von „Peter Pan“ die Musik zu komponieren. Wilson sei mit seinen 70 Jahren wie ein Kind, sagt Bianca Casady.

Flucht vor dem Erwachsenwerden ist das zentrale Motiv von „Peter Pan“. Der Held ist imstande zu fliegen, und in diesem Schwebezustand, in diesem ständigen Werden entflieht er in ein fantastisches Nimmerland. In Peter Pans Gegenwelt aus Lagunen, Piraten, Indianern, Meerjungfrauen und fliegenden Kindern fühlen sich auch Sierra und Bianca Casady wie zu Hause. Man darf gespannt sein, welche musikalischen Entsprechungen sie Robert Wilsons suggestiven Bilderwelten beifügen werden.

„Peter Pan“. Regie: Robert Wilson. Musik: CocoRosie. Premiere am 17. April, Berliner Ensemble. Weitere Vorstellungen: 18. April, 19. April, 22. April. CocoRosie live: 24. Mai – „Huxleys neue Welt“, Berlin; 25. Mai: „Uebel & Gefährlich“, Hamburg; 1. Juni: „Alte Kongresshalle“, München. CocoRosie „Tales of a GrassWidow“ (City Slang/Universal) erscheint am 24. Mai.

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