Album „30“ von Popstar Adele: Mit ganz großem Orchester
Streicher und Herzschmerz dominieren Adeles neues Album „30“. Die Songtexte können es mit der Komplexität ihrer Musik nicht aufnehmen.
Adele ist schuld. Adele trägt den Untergang der Musikindustrie auf ihren hübschen Schultern. Zuerst hat sie die Vinylkrise herbeigesungen: Anfang November berichtete Variety, die Sängerin habe 500.000 Einheiten ihres neuen, dritten Albums „30“ vorbestellt und damit die Produktion der Presswerke für Vinyl lahmgelegt.
Denn Vinyl ist rar, seit es weltweit nur noch zwei Fabriken gibt, die Rohlinge für Presswerke herstellen. Sogar Ed Sheeran hatte bereits öffentlich gemault: Die Konkurrentin habe die Fabriken „ausgebucht“.
Zum zweiten ist „30“, der Albtraum der zitternden Rival:innen, jetzt endlich veröffentlicht. Und zwar mit – fast im wahrsten Wortsinn – Pauken und Trompeten.
Denn vor allem die Instrumentierung auf „30“ ist der Grund, die 33-jährige Britin Adele Laurie Blue Adkins als eine der zeitgemäßen Sängerinnen wahrzunehmen oder sie zumindest so zu lobpreisen.
Sound, der sich dem Soul der Motown-Ära annähert
In der Mainstream-Popwelt hat man lange keinen Sound gehört, der sich ernsthafter den großen, zum Heulen schönen Großraum-Soul-Produktionen der Motown-Ära annähert, an „Ain’t No Mountain High Enough“ in der Version von Marvin Gaye und Tammi Terrell, an Arrangements von Neil Hefti, Les Baxter und anderen modernen Meistern des orchestralen Retro-Sounds wie Daniele Luppi, der schon Streicherparts für John Legend arrangierte.
Adele: „30“ (Columbia/Sony)
Auf vier von zwölf der neuen Adele-Songs verlässt sich die Musikerin auf solcherlei opulente Klänge, lässt ihre Produzenten ein echtes, vielköpfiges Orchester beschäftigen, darüber sanft Orgeltöne streuen und reichert das Ganze mit zauberhaften, ausgefuchsten oder niedlichen Backgroundchören an. Doch Adele scheint auf „30“, und das könnte man angesichts der eifersüchtigen Observation durch die Kolleg:innen verstehen, auch daran gelegen, ihre Versatilität zu beweisen.
Immer wieder ändert das Werk musikalisch seine Richtung, geht vom pompösen Auftaktsong „Strangers by Nature“ über zur klassischen Klavierballade, bei der sie sich in Amy-Winehouse-Manier etwas arg prätentiös die verlassene Sängerinnenseele heraussingt.
Böse Zungen vernehmen dahinter Unausgewogenheit
Sie haucht nah ins Mikro wie Billie Eilish, versucht in Songs wie „My Little Love“ den coolen Style von Erykah Badu zu streifen, schnuppert backgroundtechnisch bei „Cry Your Heart Out“ an Lauryn Hills Frühwerk, begrüßt Aretha Franklin, arbeitet sich überhaupt viel an „Black Music“ ab, sozusagen als echte Vertreterin des Blue Eyed Soul.
Man darf das gern als Geschmacksvielfalt anerkennen. Nur böse Zungen beziehungsweise Ohren vernehmen dahinter Unausgewogenheit. „30“ besingt in jedem Städtchen ein anderes Mädchen. Doch es ist erlaubt, die Geschmäcker breit zu bedienen, es ist auch okay, unterschiedliche Instrumentierungen, Rhythmen, Atmosphären zu nutzen.
Zusammengehalten werden die Songs überdies – außer von Adeles wie immer makellosen Stimme – von einem simplen gemeinsamen Nenner: Es geht auf „30“ um eine überstandene Trennung. Das ist nicht das einfallsreichste, aber ein legitimes Thema.
Ach ja, es ist so schwer, eine Frau zu sein
Wenn es auch dazu führt, dass Adeles Songtexte gegenüber der Komplexität ihrer Musik ziemlich abstinken: Immer wieder besingt, beklagt sie das alte Ich und Du, das kein Wir mehr ist, den Herzschmerz, denn „you never had a woman like me“, ach ja, es ist so schwer, eine Frau zu sein, und die Liebe ist ein seltsames Spiel.
In Songs wie „To Be Loved“, auf dem man sie als Jazzsängerin in einer kleinen Bar imaginiert, nur begleitet von einem Menschen am Klavier, gerät das arg cheesy: Ist gut, hör auf zu jaulen, möchte man ihr zurufen, wir haben ja verstanden. Am Ende ist man richtig geschafft, allein vom Hören.
Doch danach folgt mit „Love Is a Game“ als Wiedergutmachung der musikalische Höhepunkt und das große Finale des Albums, mit dem sich Adele sozusagen selbst in die Muppet Show eingeladen hat. Was durchaus ein Qualitätsmerkmal ist: Zu manchen Zeiten stachen die Muppet-Versionen bekannter Songs ihre Originale aus.
Und auch auf „Love Is a Game“ laufen Arrangeur und Orchester zu Höchstformen auf, während Adele noch mal von der Liebe singt – und mindestens sechs Muppethandpuppen mit Kulleraugen ihr im Hintergrund zuzustimmen scheinen. Das ist lustig und rührend gleichzeitig. Vielleicht gehen Welt und Musikindustrie also doch noch nicht unter.
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