Aktivistin über Flüchtlinge in Russland: „Leute werden humaner“
Die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina bekommt – trotz Corona – Hilfsgüter für Flüchtlinge. Auch die Behörden seien kooperativer, sagt sie.
taz: Frau Gannuschkina, auch Sie sind jetzt wegen Corona im Homeoffice. Wie kann man da Flüchtlingen helfen?
Swetlana Gannuschkina: In Moskau gelten strenge Ausgangsbestimmungen. Doch auf Antrag erhalten unsere BeraterInnen, JuristInnen und Dolmetscher die Erlaubnis, unser Büro aufzusuchen.
Und für Flüchtlinge gelten die gleichen Ausgangsbeschränkungen?
Viele Flüchtlinge haben keine gültigen Papiere. Und Papierlose können keine Anträge stellen. Dies bedeutet, dass sich Papierlose, die zum Einkaufen gehen, automatisch strafbar machen. Wir als Organisation „Zivile Unterstützung“ haben die Behörden gebeten, doch eine Regelung für die Papierlosen unter den derzeit gültigen Ausgangsbestimmungen zu finden.
Rekord: In den vergangenen 24 Stunden waren, offiziellen Angaben zufolge, in Russland 3.388 neue Infektionen zu verzeichnen – der höchste Werte innerhalb eines Tages seit dem Ausbruch der Coronapandemie. Damit steigt die Anzahl der Erkrankten auf 24.490. Bislang sind in Zusammenhang mit Covid-19 198 Menschen gestorben und 1.986 wieder genesen.
Veteranen: Mehrere Verbände haben sich an Russlands Präsident Wladimir Putin mit der Bitte gewandt, die Feierlichkeiten am 9. Mai aus Anlass des 75. Jahrestages des Kriegsendes wegen Corona zu verschieben. Noch ist der Kremlchef fest entschlossen, die Militärgroßveranstaltung auf dem Moskauer Roten Platz, für die bereits geübt wird, durchzuziehen. (taz)
Swetlana Gannuschkina, 78, ist Mitglied im Vorstand des Menschenrechtszentrums Memorial. 2016 erhielt sie den Alternativen Nobelpreis.
Aus welchen Gründen suchen Flüchtlinge Kontakt zu Ihrer Organisation?
Viele haben Angst, dass ihre Dokumente ablaufen, weil die Behörden nur sehr begrenzt arbeiten. Unsere Juristen bearbeiten mit diesen Flüchtlingen die Formulare, schicken diese dann per Mail an die Behörden. Andere kommen mit medizinischen Problemen zu uns und werden dann von unseren Ärztinnen versorgt.
Wie viele Flüchtlinge gibt es derzeit in Russland?
Laut Stand vom 1. Januar dieses Jahres haben wir 487 anerkannte Flüchtlinge und 41.946 Flüchtlinge mit einem befristeten Aufenthaltsstatus. Nur sie dürfen arbeiten. Alle anderen, das sind nach meinen Schätzungen rund 200.000, nicht. In Russland gibt es keine staatlichen finanziellen Hilfen für Flüchtlinge. Und arbeiten dürfen nur diejenigen, die anerkannt sind. Alle anderen müssen sehen, dass sie sich irgendwie Geld dazuverdienen können. Die meisten haben etwas im Handel gefunden, als Packer. Doch genau diese Arbeiten werden derzeit nicht benötigt. Deswegen sind einige Familien gänzlich ohne Lebensmittel. Wir als Organisation sammeln Geld, um die Betroffenen mit dem Nötigsten zu unterstützen.
Und wo kommt das Geld dafür her?
Vor Kurzem hat uns die französische Botschaft sehr unbürokratisch und innerhalb von zwei Tagen eine Million Rubel für unsere Arbeit gegeben.
Und die Bevölkerung?
Die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung hat auch in Coronazeiten nicht abgenommen. Vor zwei Wochen suchte uns Alexej Chodorkowski (er ist nicht verwandt mit Michail Chodorkowski, Anm. der Red.), Chef eines Gastronomiebetriebes, auf. Er bot uns kostenlose Mittagessen für unsere Schützlinge an. Und er hat auch dafür gesorgt, dass wir Lebensmittel verbilligt bei einem Großhändler einkaufen können. So haben wir Ende März die ersten hundert Mittagessen in die private Flüchtlingsunterkunft „Nesnajka“ angeliefert. In dieser Unterkunft, die uns ein Freund zur Verfügung gestellt hat, haben Dutzende von Flüchtlingen erst mal ein Dach über dem Kopf gefunden. Und auch der in Russland sehr bekannte Chansonnier Sergej Nikitin hilft uns. Nikitin ist genauso wie ich Mitglied im Beirat dieser Flüchtlingsunterkunft. Dieses private Heim ist derzeit der einzige Ort, wo wir alleinstehende Mütter mit ihren Kindern unterbringen können.
Wie bewerten Sie das Vorgehen der Behörden?
Die Menschen werden in diesen Krisenzeiten humaner. So erleben wir in den letzten Tagen, dass man Personen, denen noch in der Vorviruszeit kein Visum verlängert worden wäre, nun plötzlich den begehrten Stempel gibt. Und aus den Strafkolonien und Abschiebegefängnissen werden viele Insassen vorzeitig entlassen. Allein im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ sind bereits zwei Dutzend Häftlinge infiziert.
Diese „Humanisierung“ lässt sich überall beobachten?
Ich sehe sie in Perm, Ekaterinburg, dem Gebiet Swerdlowsk, auch in Moskau. Schlecht sieht es hingegen in St. Petersburg aus.
Und im Nordkaukasus, wie der Teilrepublik Tschetschenien?
Da ist alles anders. Das ist die einzige Region auf der ganzen Welt, wo es noch Hexenjagden im mittelalterlichen Sinne gibt. Wer in Tschetschenien der Hexerei verdächtigt wird, wird bestraft. Und diese Strafen, die von keinem Gesetz gedeckt sind, sind oft brutal. In Tschetschenien werden Corona-Infizierte mit Terroristen auf eine Stufe gestellt. Dort glauben die Behörden, die Betroffenen seien selbst schuld an ihrer Infektion.
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