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Aktivistin über Bürgergeld-Pläne„Neue Worte für das Gleiche“

Wird das „Bürgergeld“ der Ampelkoalition wirklich Hartz IV überwinden und Verbesserungen bringen? Sozialaktivistin Helena Steinhaus ist skeptisch.

Behörden-Trostlosigkeit. Sozialaktivistin Steinhaus fordert einen Paradigmenwechsel Foto: Aussieker/Visum
Jörg Wimalasena
Interview von Jörg Wimalasena

taz: Frau Steinhaus, Ihr Verein „Sanktionsfrei“ kämpft seit Jahren für die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen und unterstützt Betroffene. Die neue Bundesregierung plant nun zumindest ein zwölfmonatiges Moratorium. Haben Sie Ihr Ziel nun erreicht?

Helena Steinhaus: Moratorium heißt ja nur, dass die Sanktionen temporär ausgesetzt werden. Unser Ziel ist deren Abschaffung, um Hartz IV zu einer echten Grundsicherung zu machen.

Sie gehen nicht davon aus, dass das Moratorium zu einer dauerhaften Abkehr von Kürzungen des Regelbedarfs – etwa bei verpassten Terminen beim Jobcenter – führt?

Leider nicht, das Moratorium ist ein Zeichen dafür, dass man sich in den Koalitionsverhandlungen eben nicht auf eine Abschaffung einigen konnte. Die Grünen wollen Sanktionen abschaffen, die FDP nicht, und die SPD … da weiß man eigentlich gar nicht so genau, ob die eine Position haben.

Im Interview: 

34, hat 2015 „Sanktionsfrei“ gegründet und setzt sich für eine bedingungs­lose Grund­sicherung ein.

Aber ein Jahr ohne Sanktionen heißt doch zumindest, dass Hartz-IV-Betroffene sich ein Jahr lang keine Sorgen um Kürzungen machen müssen. Was bedeutet das für Ihre Kunden?

Es bedeutet weniger, als man im ersten Moment denkt. Auch jetzt übernehmen wir sehr viele Fälle, die mit Sanktionen im engeren Sinne eigentlich nichts zu tun haben, die sich für Betroffene aber so anfühlen – zum Beispiel Kürzungen aufgrund der Verletzung von Mitwirkungspflichten, etwa, wenn man angefragte Auskünfte zu den eigenen Lebensverhältnissen nicht erteilt hat. Der Regelsatz kann eben nicht nur über den Sank­tions­para­grafen angetastet werden.

Welche Möglichkeiten gibt es sonst?

2019 hat das Bundesverfassungsgericht 100-Prozent-Sanktionen verboten, also den kompletten Entzug aller Leistungen. Mein Eindruck und der Eindruck von befreundeten Anwälten ist: Man sanktioniert durch die Hintertür, indem man zum Beispiel Bescheide nicht bearbeitet oder Weiterbewilligungsanträgen nicht stattgibt. Der Effekt bleibt: Menschen wird die Lebensgrundlage entzogen.

Ein Argument für Sanktionen ist ja, dass man ohne dieses Instrument Arbeitslose nicht mehr dazu bewegen kann, an der Arbeitsvermittlung mitzuwirken. Garantiert Sanktionsfreiheit ein Leben in der „sozialen Hängematte“?

Ja, das ist immer die große Sorge, dass es eine Art Freifahrtschein zur Ausbeutung unseres Sozialsystems gäbe. Tatsächlich gibt es dafür keine Belege. Die meisten Menschen wollen arbeiten.

Dennoch gibt es knapp eine Million Langzeitarbeitslose.

Natürlich gibt es Situationen, in denen man zeitweise oder auch längerfristig nicht arbeiten kann – und es gibt Umstände, die arbeiten nicht attraktiv machen. Wenn man Arbeit bekommt, mit der man schlechter dasteht als mit Hartz IV – dann müssen sich eben die Arbeitsbedingungen und die Löhne verbessern. Das Argument, dass Sanktionen als „Motivation“ wirken, ist nicht nachweisbar. Menschen, die aufgrund von Sanktionen Jobs angenommen haben, landen häufig wieder im Bezug. Es gibt einen Drehtüreffekt.

Die SPD, die Hartz IV vor 18 Jahren durchsetzte, spricht nun von einem „Bürgergeld“. Ist die Neuregelung wirklich eine Abkehr von den Schröder’schen Reformen?

Nein, eine Abkehr hieße: Der Regelsatz muss erhöht, die Sanktionen müssen abgeschafft werden, das ist ganz wichtig. Die Menschen dürfen nicht in der Armutsfalle feststecken. Und man muss mit ihnen auf Augenhöhe sprechen. Es muss einen echten Paradigmenwechsel geben. Stattdessen gibt es neue Begriffe. Anstelle einer „Eingliederungsvereinbarung“ gibt es jetzt eine „Teilhabevereinbarung“. Für mich sind das neue Worte für das Gleiche. Bisher klingt das für mich nicht besonders vielversprechend.

Gibt es denn gar nichts Positives? Zum Beispiel soll es ja jetzt einen Vorrang von Qualifizierungsmaßnahmen vor Vermittlung geben.

Das ist in der Tat positiv. Aber ich will sehen, ob das wirklich umgesetzt wird. Auch die Erhöhung des Schonvermögens und der Zuverdienstgrenzen ist schön. Aber bei beiden Vorhaben fehlt eine konkrete Zahl. Ein weiterer Fortschritt ist, die Löhne von Jugendlichen nicht mehr anzurechnen. Wenn das so kommt, ist das ein Schritt in die richtige Richtung.

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9 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Kann sich jemand vorstellen, wie demütigend es für Akademiker mit Abschluss ist, beim Arbeitsamt um Hartz-IV zu betteln?

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Wieso nur "für Akademiker"?

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Das Grundproblem, nämlich vernünftige Jobs zu vermitteln, wird auch durch das Bürgergeld nicht gelöst.



    Dabei gibt es hierzulande doch Arbeit in Hülle und Fülle. Nur bezahlen wollen die Leute wenig. Sklavenhaltertum ist aber schon lange abgeschafft!!!



    Fachkräftemangel heißt es. Andererseits gibt es Mio von Arbeitslosen (auch wenn die z.B. in einem Trainingskurs sind, krank sind etc:) die einfach hinten runter fallen.



    Schon sehr lange gibt es keine Umschulungen mehr. Betriebe klagen, dass sie keine Azubis finden.

  • Es ist sogar noch bestürzender, als es Frau Steinhaus darstellt. Denn sie ist hinsichtlich des Sanktionsmoratoriums einem Irrtum aufgesessen. Der MdB Sven Lehmann schrieb am 24.11.21 zum Bürgergeld: „Bis Ende 2022 wollen wir die Mitwirkungspflichten der Bürgergeldbeziehenden neu regeln. Bis dahin gilt ein Sanktionsmoratorium: Es werden keine Sanktionen unter das Existenzminimum mehr verhängt“ [….] „Kosten der Unterkunft und Heizung werden grundsätzlich von Sanktionen ausgenommen und Unter-25-Jährige nicht mehr verschärft sanktioniert.“ --- Ein Sanktionsmoratorium würde bedeuten, dass Sanktionen komplett ausgesetzt würden. Das ist laut MdB Sven Lehmann aber nicht der Fall: Es wird weiter sanktioniert werden, nur nicht „unter das Existenzminimum". Im Ergebnis ist das aber der derzeitige Zustand. Sanktionen nur bis 30 % des Regelsatzes, keine Sanktionierung der KdU und keine verschärften Sanktionen für U-25’er. Das ist das, was das BVerfG in seinem Sanktionsurteil bereits vorgegeben hatte.

    Man sieht hieran, dass die Ampel zur Thematik Hartz-IV nur Kosmetik betreiben will: Lediglich schöne, neue unbelastete Begriffe für die ganze Sauerei. In Wirklichkeit soll aber für die Ärmsten der Armen alles beim Alten bleiben. Es wird am Ende des Jahres 2022 nur das geändert, was das BVerfG-Urteil schon der alten Regierung aufgetragen hatte und schon längst in Gesetzesform hätte gegossen werden sollen.

    SPD und Grüne, die das Hartz-IV-Regime erst eingeführt haben, beweisen hier erneut ihre Soziale Kälte. All ihr Gerede im Wahlkampf zur Thematik Hartz-IV war eben nur das, was es war: Wortgeklingel, um Stimmen zu fangen. Im Wahlkampf links blinken, danach vergessen.

    Zur Vollständigkeit halber: Das von der FDP zur Fortführung der Sozialen Kälte kein Widerstand zu erwarten war/ist, überrascht wohl niemanden.

    Wenn man bedenkt, was alles die Ampel umsetzen will, aber Steuererhöhungen ausgeschlossen sind, lässt dieses kosmetische Wortgeklingel Böses für die sozial Schwächsten erahnen.

  • Helena Steinhaus (Sanktionsfrei): "Die Grünen wollen Sanktionen abschaffen, die FDP nicht, und die SPD … da weiß man eigentlich gar nicht so genau, ob die eine Position haben."

    Die FDP und Christian Lindner wissen doch auch, dass es in diesem hochtechnisierten Land nicht mehr genügend Arbeitsplätze gibt, von denen man auch vernünftig leben kann. In einer Welt voller Maschinen, Computer, Automaten, Regelungstechnik, Roboter und demnächst auch KI, wird der Mensch als Arbeitskraft immer überflüssiger werden, egal ob er nun Hilfsarbeiter oder Ingenieur ist. Da aber Industrie 4.0 noch nicht völlig abgeschlossen ist, benötigt man im Augenblick natürlich noch "Arbeitssklaven" und mit dem 'Damoklesschwert 'Hartz IV', das demnächst den harmlosen Namen "Bürgergeld" bekommt, kann man Menschen auch sehr gut davon überzeugen, dass sich "jede Arbeit" lohnt. Wer auch mal schauen will, wie man den vorgesehenen Mindestlohn von 12 Euro/Stunde weiterhin umgehen kann, der muss bei Google nur "Mindestlohn umgehen" eingeben. Der Mindestlohn wird also weiterhin mit allen Tricks umgangen werden, damit die deutsche Wirtschaft innerhalb Europas ihre Stellung als Exportweltmeister halten kann; was die anderen europäischen Länder natürlich wirtschaftlich extrem unter Druck setzt. Die "Aufgabe" die der "Bürgergeldempfänger" in diesem Monopolyspiel hat, ist also klar, egal ob man dem Ganzen jetzt einen schöneren Namen gegeben hat.

    Was wir im Grunde eigentlich endlich brauchen, ist eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche, wie sie seit Jahren der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Bontrup fordert, und danach sollte man einmal ernsthaft über das BGE nachdenken. Aber mit der FDP wird das alles nichts werden, denn der Freiheitsbegriff der FDP ist nur die 'Freiheit der Reichen', die auch in Zukunft bei der FDP kaum Steuern zahlen sollen; aber bestimmt nicht die 'Freiheit der kleinen Leute', die mit "Bürgergeld"-Sanktionen auch weiterhin "gefügig" gemacht werden sollen.

  • 1/2



    Dank an Helena Steinhaus u. Taz für das informative Interview. Wird doch, wo der Koalitionsvertrag steht, soviel wichtiges zu Hartz IV angesprochen, von dem längst noch nicht ausgemacht ist, wie es sich entwickelt.



    Das „entschiedenste Bollwerk“ zur Verteidigung von Hartz IV, die Unionsparteien, ist jetzt in der Opposition. Gestern (Donnerstag, 25.11.21) konnte man in der Sendung „Markus Lanz“ – ZDF, den Kandidaten für den Parteivorsitz der CDU Helge Braun zu Hartz IV hören.



    Braun kritisierte die vermeintliche „Abkehr“ der SPD von Hartz IV, Helena Steinhaus erläutert ja u. a., warum sie genau das anders sieht. Brauns Rede wirkte auf mich wie eine „dunkle Warnung“ davor, „die Ampel“ sei drauf und dran, die Errungenschaften der Grundsicherung zu ruinieren. Für mich zentral dabei war sein Hinweis, namentlich die SPD hätte nun das Prinzip des Vorrangs der Vermittlung der Erwerbslosen in Arbeit aufgegeben. Subtext: Es drohen den Steuerzahlerbürgern finanziell harte Zeiten zu Gunsten einer Subventionierung einer bequemen Hängematte „Bürgergeld“. Da waren sie wieder, die bekannte Sprache u. Logik der Agenda 2010.



    Im Koalitionsvertrag heißt es: *Der Vermittlungsvorrang im SGB II wird abgeschafft. Die Förderung der Weiterbildung und Qualifizierung werden wir stärken. Die Prämienregelung bei abschlussbezogener Weiterbildung werden wir entfristen. Wir fördern vollqualifizierende Ausbildungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung unabhängig von Dauer und Grundkompetenzen, auch im Umgang mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien.* Aus: Koalitionsvertrag, Abschnitt Bürgergeld, S. 76.

  • 2/2



    Es ist aber genau wie H. Steinhaus es erläutert. Der Vermittlungsvorrang hat nie wirklich „funktioniert“. AUCH NICHT IM SINNE SEINER „KONSTRUKTEURE“. Ja, ich habe keine empirischen Belege. Doch muss z. B. beim momentan wg. Coroana zu beobachteten Ausscheiden von Kräften aus der Pflege schon gefragt werden, wie viele dieser Arbeitskräfte, insbesondere solcher, die als Pflegehilfe arbeiten, zuvor mehr oder weniger „sanktionsbewehrt“ in diesen Beruf gedrängt wurden. H. Steinhaus nennt die Folge: „Menschen, die aufgrund von Sanktionen Jobs angenommen haben, landen häufig wieder im Bezug. Es gibt einen Drehtüreffekt.“ Der ist empirisch nachweisbar.



    Man kann/muss also zuerst einmal ganz „simpel“ fragen: Was muss/müsste also geschehen um „nachhaltige“ Ermittlungserfolge zu erzielen? Und ja, die Antwort darauf zu finden, wird schwierig. Doch Erfahrungswerte gibt es!



    Man wird also sehen, wie die Diskussionen, Debatten über die vermeintliche Aufgabe von von etwas, das es in diesem Sinne nie gab, ein erfolgreiches Instrument „Vermittlung durch Sanktonsdruck“, ausfallen werden. Und vor allem: Ob SPD u. FDP wirklich die Inhalte begriffen haben, die sie im Koalitionsvertrag mit festschrieben. Und wenn JA, ob sie versuchen werden, diese Vereinbarungen durch die Installation intransparent bleibender Zwänge zu unterlaufen. Denn genau das konnte man bei der SPD in ihrer bisherigen Politik immer wieder beobachten. Hat also die SPD sich „wirklich“ dazu entschlossen „Hartz IV“ zu überwinden oder bleibt sie da noch die Partei mit den zwei Gesichtern? Oder anders gefragt: Ist sie die Partei, die inhaltlich tatsächlich das verstanden hat, was sie bereit war, koalitionsvertraglich gemeinsam mit den Koalitionsparteien jetzt öffentlich zu propagieren?

    Link „Koalitionsvertrag“ www.tagesspiegel.d...mpel-2021-2025.pdf

  • Ganz ehrlich? Ich kann den Begriff „Langzeitarbeitslose“ nicht mehr hören und finde es auch immer wieder befremdlich, dass dieser im Zusammenhang mit Hartz IV verwendet wird. Dabei handelt es sich doch um ein neoliberales Unwort, um Menschen gezielt zu disdreditiren, zu „entwerten“ und zu entwürdigen. Der Begriff ist schlicht und einfach diskriminierend.

    • 8G
      86548 (Profil gelöscht)
      @Waltraut:

      was soll frau sonst sagen? hartzer ist auch nicht schön.