Aktivismus in Kolumbien: Eine Frage des Überlebens

Der Aktivist Juan Pablo Gutierrez kämpft gegen Kolonialismus und musste dafür fast mit dem Leben bezahlen. Heute lebt er im Pariser Exil.

Juan Pablo Gutierrez aus Kolumbien spricht in ein Mikrofon

Der Kohlegegner und Aktivist Juan Pablo Gutierrez aus Kolumbien in Lützerath im Oktober 2021 Foto: Christoph Hardt/picture alliance

Heiß ist es im August 2022 in Hamburg. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel, das Gras im Volkspark, wo in diesen Tagen ein Camp der Klimabewegung stattfindet, ist gelb und vertrocknet. Ein Zirkuszelt spendet zumindest etwas Schatten. Vor Jour­na­lis­t*in­nen geben dort mehrere Spre­che­r*in­nen klimapolitischer Gruppen vorbereitete Stellungnahmen ab, es geht um Klimaschutz, Neokolonialismus und den Globalen Süden.

Dann ist Juan Pablo Gutierrez dran. Er spricht auf Spanisch, laut, schnell und direkt, wählt drastische Worte. „Durch den Bergbau in Kolumbien könnt ihr hier in Wohlstand leben“, sagt er. „Die Energie, die in Deutschland mit kolumbianischer Kohle hergestellt wird, ist mit Blut verschmutzt.“ Er erzählt von Naturzerstörung, von Landverlusten der indigenen Bevölkerung und von Atemwegserkrankungen bei Kindern, die durch den Bergbau verursacht werden.

Im deutschen Klimaaktivismus wird momentan viel darüber diskutiert, wie man nicht resigniert, wie man Hoffnung finden kann. Für Juan Pablo Gutierrez stellen sich diese Fragen in einer anderen Dimension. Wegen seiner politischen Arbeit wurden bereits zwei Mordanschläge auf ihn verübt. Woraus schöpft er Kraft in einem Kampf, der ihn fast das Leben kostete und immer wieder aussichtslos scheint?

Sein größter Wunsch ist die Rückkehr in seine Heimat

Man findet Gutierrez in letzter Zeit bei allen großen Klimaereignissen: In Hamburg, in Lützerath, auf dem Biodiversitätskongress in Marseille und der Weltklimakonferenz in Ägypten. Er kennt viele Leute dort, es ist schwer, ihn allein zu erwischen. Gutierrez ist kein großer Mann, dennoch ist er nicht zu übersehen. Oft trägt er einen blau-weiß gestreiften Poncho, die braunen Locken zu einem Dutt gebunden, eine Kette und Lederarmbänder. Mit seinen Reden verschafft er sich Gehör, ohne zu schreien, im persönlichen Gespräch ist er offen und freundlich.

Schnell lädt er Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen zu sich nach Paris ein, wo er seit fünf Jahren wohnt, im Exil. Dort führt er eine Art Doppelleben: Bis zum Mittag lebt er sein Leben in Frankreich. Aber danach, wenn in seiner Heimat der Tag beginnt, stellt er das kolumbianische Radio an, hört die Nachrichten und spricht mit den Menschen in Kolumbien über Signal und Instagram. Sein größter Wunsch ist es, nach Kolumbien zurückkehren zu können. Gleichzeitig empfindet er es als Privileg, nicht dort zu sein: „Die meisten Menschen in Kolumbien haben nicht die Möglichkeit zu gehen, also sind sie dazu verdammt, getötet zu werden.“

Ein dramatischer Satz, der nachvollziehbar wird, wenn man Gutierrez’ Lebensgeschichte betrachtet. Als Teil des Indigenen Volks Yuk­pa, das um den Gebirgszug Sierra de Perijá in Venezuela und Kolumbien lebt, ist der heute 41-Jährige in einer Zeit aufgewachsen, in der Indigene in Kolumbien kaum Rechte hatten. „Zu sagen, dass man indigen ist, hieß zu akzeptieren, dass man als Sklave behandelt und ausgebeutet wird“, sagt Gutierrez.

Ein Luftbild zeigt eine Landschaft mit kleinen Wassertümpeln, die auf Verschmutzung hinweisen

Übersicht der Umweltauswirkungen nach dem illegalen Bergbau in Santander de Quilichao in Kolumbien Foto: Ch. Escobar Mora/EF/SIPA/action press

In Kolumbien ist es besonders gefährlich für Ak­ti­vis­t*in­nen

Die Yukpa organisierten sich ab Anfang der 2000er Jahre politisch und wurden Teil von ONIC, der nationalen Indigenen-Organisation Kolumbiens. Gutierrez arbeitete zunächst als Fotograf und dokumentierte Menschenrechtsverletzungen. Später wurde er aufgrund seiner Kontakte zu internationalen Organisationen zu einem von ONICs internationalen Vertreter*innen.

Kolumbien gehört zu den gefährlichsten Ländern für Ak­ti­vis­t*in­nen weltweit. Laut der Ombudsstelle für Menschenrechte, einer unabhängigen Organisation mit Sitz in Bogotá, wurden hier im vergangenen Jahr 215 Ak­ti­vis­t*in­nen getötet, 2021 waren es 145. „Wenn wir uns entschließen zu kämpfen, dann wissen wir auch, dass wir kämpfen werden, bis wir getötet werden oder den Kampf gewinnen“, sagt Gutierrez.

2012 besuchte Gutierrez für die ONIC das Gebiet der indigenen Nukak. Die Nukak leben im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens und stehen laut der Nichtregierungsorganisation Survival International „am Rand der Auslöschung“. Um zu ihnen zu kommen, musste Gutierrez Kokafelder überqueren. Mitglieder der Drogenkartelle, der Narcos, warnten ihn, Stillschweigen über die Felder zu bewahren. Doch Gutierrez machte Fotos. „Viele Nukak sind auf Kokafeldern versklavt. Die Narcos haben ihr Land genommen und die Nukak gezwungen, dort zu arbeiten.“

Nach der Veröffentlichung der Fotos bekam Gutierrez Drohungen. Als er erneut das Gebiet der Nukak besuchte, sei er von bewaffneten Männern aufgehalten worden, die ihn mitnehmen wollten, „offensichtlich, um mich zu töten“, sagt er. Wer dort gekidnappt werde, kehre nicht zurück. Nur weil er mit einer Gruppe von 50 Leuten unterwegs war, die mit den Männern diskutiert habe und ihn nicht gehen lassen wollte, sei er noch einmal davon gekommen. Danach kehrte er nie wieder in diese Gegend zurück.

Den zweiten Anschlag überlebte er nur knapp

Das zweite Mal wurde er mitten in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá nach seiner Arbeit bei ONIC aufgehalten. Vier Männer auf Motorrädern umringten sein Auto und schossen, 16 Mal. „Nur wie durch ein Wunder wurde ich nicht getroffen.“ Dieser Anschlag sei von den Aguilas Negras ausgegangen, paramilitärischen Organisationen, die Umwelt- und Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t*in­nen in Kolumbien töten. „Sie machen die Drecksarbeit der Regierung“, sagt Gutierrez.

Zunächst blieb er trotzdem in Kolumbien. Erst als seine Tochter geboren wurde, spürte er Angst und Verantwortung für ihr Leben. Deshalb entschied er, zusammen mit seiner Familie nach Paris zu gehen.

Obwohl er sich als Teil der Klima­bewegung versteht, ist die Klima­krise für Juan Pablo Gutierrez eigentlich ein sekundäres Problem. Er betrachte sie als Teil der Krise, die durch den Kolonialismus verursacht wurde und wird. „Im Globalen Süden kämpfen wir seit 500 Jahren gegen die Wurzeln dieses zerstörerischen Systems“, sagt er. „Der Globale Norden dagegen hat erst vor ein paar Jahren begonnen, die Konsequenzen dieses Systems als Bedrohung wahrzunehmen.“

Trotzdem klingt Juan Pablo Gutierrez nicht wütend, wenn er aus seinem Leben erzählt, und vom andauernden Kampf gegen Kolonialismus. Auf Spanisch spricht er schnell, selbstsicher, auf Englisch eher bedächtig. Die Sprache habe er über Twitter gelernt, indem er das, was er twittern wollte, in ein Übersetzungstool geschrieben hat.

Wenn europäisches Privileg zu einer Falle wird

Heute, sagt Gutierrez, werde endlich mehr auf Indigene gehört, nachdem ihre Ansichten lange ignoriert wurden. „Zum ersten Mal haben wir die Möglichkeit, nicht als Wilde, Unzivilisierte wahrgenommen zu werden, sondern als diejenigen, die mit der Art, wie wir leben wollen, richtig liegen.“ Gerade im europäischen Exil sei es ihm möglich, Allianzen mit Menschen zu schließen, die nach einer Lösung suchen. „Wenn ich europäische Ak­ti­vis­t*in­nen als meine Feinde sehen würde, würde ich Feinde suchen, wo keine sind“, sagt Gutierrez.

Lützerath besuchte er 2021 zum ersten Mal, auf Einladung der Aktivistin Carola Rackete. Insgesamt fünf Mal war er dort. „Ich fühlte mich sofort direkt betroffen, als wäre es mein eigener Kampf“, sagt er. Auf dem Gebiet der Yukpa liegt auch eine Kohlemine, 16-mal so groß wie der Tagebau Garzweiler bei Lützerath.

Ein Problem sieht Gutierrez in der Zersplitterung der europäischen Klimabewegung in viele verschiedene Gruppen. „Die Organisationen hier verstehen sich noch als Individuum“, sagt er. Im Moment ist er begeistert von den radikalen Protesten in Frankreich gegen ein Wasserreservoir für die Landwirtschaft. „So sollte Aktivismus hier in Europa sein, das muss weiter gehen als die Aktionen vieler Gruppen, die vor allem Symbolcharakter haben.“

Aufhören ist keine Option

Gutierrez kämpft weiter, weil er keine andere Wahl sieht. Für ihn ist es eine Frage des Überlebens: „Wenn jemand mit einem Gewehr oder einer Maschine versucht, dein Land zu zerstören, kannst du nicht sagen, ich bin gerade zu deprimiert zum Kämpfen. Nein, du kämpfst.“ Die Menschen in Europa seien im Vergleich dazu weniger resilient, weil ihr privilegiertes Leben das nicht wirklich erfordere. „Aber es ist nicht eure Schuld“, betont er. „Das Privileg ist auch eine Falle. Hier ist immer Essen im Kühlschrank und Wasser kommt immer aus dem Wasserhahn. Ihr seid nicht im Überlebensmodus.“

Was Gutierrez will, ist mehr Radikalität. Für ihn steckt die europäische Klimabewegung noch zu viel Hoffnung in einen Systemwechsel durch die Regierenden. „Das ist ein bisschen naiv. Wir brauchen mehr“, sagt er. Was genau das sein könnte? Daran arbeite er. Er erzählt etwas vage von einer „Globalisierung des Widerstands“, von einem „großen Projekt“, das mehr Ak­ti­vis­t*in­nen in Lateinamerika und Europa vereinen will – bis zu einer weltweiten Revolution.

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