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Afroamerikanische Sängerin in der DDRDer Arbeiter-und-Bauern-Soul

Die Jazzsängerin Etta Cameron diente in der DDR beiden Seiten als Symbol der USA und Projektionsfläche: der Propaganda genauso wie ihren Fans.

Etta Cameron 1986 in einer Sendung des NDR Foto: imago/teutopress

Jeden Morgen steht sie am Checkpoint Charlie. Sie öffnet ihre Handtasche, zieht ein kleines Foto heraus und fleht den Grenzposten an: Bitte lassen Sie mich nach Westberlin! Ich bin Amerikanerin, möchte zurück in die USA, meine Kinder warten. Sehen Sie doch selbst: Debbie und Steve, sie brauchen ihre Mutter. Die Miene des Soldaten bleibt versteinert. Jeden Tag sagt er den gleichen Satz: Ohne gültige Papiere dürfen Sie die Deutsche Demokratische Republik nicht verlassen. Die Frau schleppt sich über die Friedrichstraße, zurück in den grauen Alltag der DDR. Sie verflucht den Moment, als sie ihr Visum unachtsam wegwarf, am 1. Januar 1968, auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Damals wusste sie gar nicht, dass Ost und West durch eine Mauer geteilt sind. Nun ist sie hinter dem Eisernen Vorhang gefangen.

Fünf Jahre später gelingt ihr eine spektakuläre Flucht. Inzwischen kennen alle in der DDR ihren Namen: Etta Cameron. Sie ist eine gefeierte Sängerin. Statt der Dokumente gibt sie dem Grenzer ein Autogramm – und er lässt sie lächelnd passieren.

Diese Geschichte, so absurd sie auch klingt, wird in Dänemark gern erzählt. Etta Cameron selbst hat sie in die Welt gesetzt. Sie verbrachte die letzten vier Jahrzehnte ihres Lebens in Kopenhagen und autorisierte 2007 die Biografie „Hun gav smerten vinger“, „Sie gab dem Schmerz Flügel“, ein Bestseller. Hier sind all die Legenden zu lesen. Tatsächlich ist die Wahrheit nicht minder aufsehenerregend – nur kennt sie kaum jemand und fügt sich weitaus weniger geschmeidig in das Raster der Boulevardpresse.

Etta Cameron reist am Neujahrstag 1968 in die DDR ein. Hinter ihr liegen eine schwierige Kindheit auf den Bahamas und die Frohn der Tingelei. Sie tritt in den Nachtklubs ihrer späteren Heimatstadt Miami auf, absolviert kleine Tourneen. Weil Jugend zu den Illusionen des Showgeschäfts gehört, fälscht sie ihr Geburtsdatum. 1939 ist auch auf ihrem Grabstein zu lesen, obwohl sie, so Tochter Debbie, bereits fünf Jahre früher zur Welt kam. Sie ist eine zierliche, schöne, einnehmende Frau. Ihre schwarze Hautfarbe verleiht ihr in Europa, wo sie 1967 zum ersten Mal gastiert, einen Hauch von Exotik. In der DDR kocht die Begeisterung über, man feiert sie als Sensation. Eine echte Jazz- und Gospelsängerin, dazu noch von höchster Güteklasse, eine perfekte Showlady, die ihr Publikum um den Finger zu wickeln weiß. Das hat es hinter Stacheldraht und Mauer in dieser Intensität noch nie gegeben.

Mit Engagements überhäuft

Eigentlich will Etta Cameron nur für ein paar Wochen bleiben, aber die Dinge bekommen eine ungeahnte Dynamik. Sie arbeitet mit der Combo von Klaus Lenz zusammen, tritt in Ostberliner Bars auf. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde: Lenz hat eine schwarze Sängerin – und was für eine! Bald stehen die Größen der DDR-Jazzszene Schlange: Bandleader wie Günther Fischer, Hannes Zerbe und Günter Hörig oder Duettpartner Manfred Krug. Etta Cameron wird mit Engagements überhäuft, steigt mehr als 200 Mal pro Jahr auf die Bühne. Sie ist oft im Fernsehen zu sehen, wird in Kinofilmen besetzt. Der einstige Insidertipp blüht auf. Die DDR bietet ihr ideale Entfaltungsbedingungen und erweist sich als Sprungbrett: Von hier aus reist Etta Cameron durch ganz Europa, Ost wie West.

In den Medien wird sie gern zu einer Aktivistin der US-Bürgerrechtsbewegung stilisiert, zur Schwester von Martin Luther King und Angela Davis. Tatsächlich sieht sich Etta Cameron selbst als eine unpolitische Künstlerin – sie möchte ihr Publikum unterhalten und nicht bekehren. Intern ist das durchaus bekannt. Die SED bemängelt in einer vertraulichen Analyse, „dass es Etta Cameron vermeidet, eine eindeutige parteiliche Haltung zum Kampf ihrer Landsleute um politische und soziale Ziele zu demonstrieren“. Als ein FDJ-Funktionär während eines Konzertes „eine Grußadresse an Angela Davis“ verlesen möchte, droht sie „mit dem demonstrativen Verlassen der Bühne und gegebenenfalls mit dem Abbrechen der Veranstaltung“.

Etta Cameron sieht sich selbst als eine unpolitische Künstlerin

Trotzdem wird sie von der Propaganda benutzt. Die Presse behauptet, die Sängerin sei eine „Vertreterin des schwarzen Amerika, die mit ihren Liedern dessen Freiheitskampf und dem Friedensgedanken künstlerischen Ausdruck zu verleihen versteht“. Man bedient sich einer Argumentation, in der „Rasse“, „Leid“, „Unterdrückung“, „Protest“ und „Freiheit“ als Koordinaten fungieren.

Genau diese Symbole dominieren auch die Wahrnehmung von Etta Camerons Songs und Image durch regimekritische Musikliebhaber. Nur ändern sich die Vorzeichen. Parallel zu den „offiziellen“, staatlich sanktionierten Konzerten und Medieneinsätzen tritt Etta Cameron oft und regelmäßig in großen Kirchen auf. Dort singt sie Spirituals wie „Down by the Riverside“ oder „Swing Low, Sweet Chariot“. Zum Schluss stimmt sie gemeinsam mit dem Publikum „We Shall Overcome“ an. Häufig steigen die Leute vor Begeisterung auf die Bänke.

Stimme mit Strahlkraft

In der Kirche, einem politischen Refugium, hat Etta Camerons Stimme eine besondere Strahlkraft und Macht. Sie kündet von Zuversicht, Solidarität und Stärke. Noch viele Jahre später erinnert sich die Künstlerin an die euphorische Atmosphäre, die sie in ostdeutschen Gotteshäusern erlebte. Fans teilten ihr in Briefen mit, sie sei „ihr Licht und ihre Hoffnung, weil ich von außen kam und weil ich die Lieder sang, die ihnen etwas in ihrer Situation bedeuteten“. Sie werten die Gospels und Spirituals zum eigenen Schrei nach Freiheit um, beziehen sie auf ihren Alltag in der DDR.

Der Staat sieht diese Art von Konzerten mit großem Unbehagen. Schließlich sammeln sich in den Kirchen nicht nur Gläubige, sondern auch Oppositionelle. Mehr noch: Der marxistischen Ideologie zufolge nistet dort die bürgerliche Reaktion, der Klassenfeind. Für die SED steht fest: „Die Kirche nutzt die Wirkung der Gospel-Songs und Spirituals dieser Sängerin zur wirkungsvollen Aufwertung ihres Prestiges, besonders unter der Jugend.“ Dass der Jubel, der Etta Cameron entgegenbrandet, auch ein politisches Statement ist, bleibt den stillen Beobachtern nicht verborgen.

Michael Rauhut

ist Professor für populäre Musik und Musikwissenschaft an der Adger-Universität in Kristiansand/Norwegen. Zusammen mit Tom Franke hat er einen Dokumentarfilm über Etta Cameron gemacht. Premiere feiert er am 7. November im Kino Babylon/Berlin. Am 8. November läuft er ab 20.15 Uhr im Programm des RBB.

Die Musikerin wird zur schillernden Projektionsfläche. Weil sie sich in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus bewegt, avanciert sie zum Spiegel konkurrierender Interessen, Visionen und Sehnsüchte. Wie unter einem Brennglas zeigen sich konträre Amerikabilder anhand der Figur Cameron. Ihre Hautfarbe und Herkunft, die ausgefallene Biografie und der packende Sound nähren gegensätzliche Interpretationen. Für die einen ist sie schlichtweg eine „Bündnispartnerin“ im Klassenkampf, für die anderen repräsentiert sie den Traum der „unbegrenzten Möglichkeiten“, einen universalen Hunger nach Emanzipation. Etta Cameron wird als kritische Stimme identifiziert, die sich – je nach Perspektive – entweder gegen die kapitalistische oder die sozialistische Ordnung aufbäumt. Sie verkörpert eine Idee von „Freiheit“, die unterschiedlich definiert ist. Je nach Perspektive personifiziert sie stets „das Andere“.

Neben der staatlichen Propaganda und Etta Camerons Fans richtet noch eine dritte Instanz ihr Augenmerk auf die Sängerin: die Stasi. Sie agiert im Verborgenen und zieht doch wichtige Fäden. Der Geheimdienst ist weniger an Camerons künstlerischem Profil und seiner Auslegbarkeit interessiert als an ihrer puren Anwesenheit. Er hat ein genuines Interesse daran, dass sie in der DDR bleibt. Dem MfS dient die Künstlerin als Mittel zum Zweck. Tatsächlich fokussiert sich das Interesse der Behörde auf ihren Ehemann. Im Sommer 1969 hatte Etta Cameron einen dänischen Staatsbürger geheiratet, der eine Zweitwohnung in Ostberlin besitzt. Sie zieht zu ihm nach Prenzlauer Berg.

William Flyckt ist als Manager in der Unterhaltungsbranche tätig und in diverse illegale Geschäfte verwickelt: den Schmuggel von Musikinstrumenten und -anlagen sowie Gebrauchtwagen von West nach Ost und die Verbreitung pornografischen Materials. Weil er seit Mitte der sechziger Jahre als Topagent für die Stasi arbeitet und als solcher deutsch-deutsche Kirchenkontakte ausspioniert, also in einem hochbrisanten Bereich aktiv ist, will man ihn unbedingt in der DDR halten. Etta Camerons permanente Auftritte und Medienaktivitäten sollen ihn zusätzlich an den Osten binden. Doch die Ehe kriselt. 1972 gelingt es Etta Cameron schließlich, sich aus der unglücklichen Beziehung zu lösen. Sie verlässt William Flyckt. Und bald auch die DDR.

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