Ärzt*innenmangel auf dem Land: „Ein Privileg der Städter“
Der Mediziner Hendrik van den Bussche glaubt nicht, dass die Schaffung neuer Studienplätze das Versorgungsproblem auf dem Land löst.
taz: Herr van den Bussche, gibt es in Deutschland einen Ärzt*innenmangel?
Hendrik van den Bussche: Nein, grundsätzlich würde ich sagen, es gibt keinen Ärztemangel. Es gibt aber zwei Probleme: Das eine ist die Ungleichverteilung von Ärzten. Sprich, es gibt ein deutliches Gefälle zwischen der Versorgung auf dem Land und in den Großstädten. Das ist fast überall in Europa und auf der Welt der Fall. Es gibt aber auch ein spezifisch deutsches Problem.
Und das wäre?
Von den Absolventen der ärztlichen Weiterbildung werden 90 Prozent Spezialisten und nur etwa zehn Prozent Hausärzte.
Warum ist das problematisch?
Gemeinsam mit dem ersten Faktor, also der Ballung in den Städten, hat das zur Folge, dass es in bestimmten Regionen des Landes, wie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, einen gravierenden Hausärztemangel gibt. Dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken, sodass es ein Privileg der städtischen Bevölkerung sein wird, ärztliche Versorgung zu bekommen.
Und woran liegt das?
In Deutschland unterliegt die ärztliche Versorgung einer Kapazitätssteuerung. In den Neunzigern wurde festgelegt, dass das Verhältnis von einem Arzt zu X Menschen nun als Standard gilt. Und diese Zahl gilt mit einer geringfügigen Anpassung bis heute. Das hat aber nichts mit dem tatsächlichen Bedarf zu tun. Um den Bedarf an Ärzten zu ermitteln, müsste man sich anschauen, aus welchen Gründen die Menschen zum Arzt gehen, welche Ärzte man für welche Erkrankungen braucht und wie die Versorgung regional zu verteilen ist. In anderen Ländern wird das bereits so gemacht.
73, war bis zu seiner Pensionierung 2011 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er leitet die „Kar-Med“-Studie zu den Karrierevorstellungen von Ärzt*innen, die ihren Facharzt machen.
Wo zum Beispiel?
In Frankreich wird jedes Jahr in den Regionen abgefragt, wo welche Ärzte fehlen und somit jedes Jahr neu festgelegt, wie viele Plätze es für Fachärzte gibt. Parallel dazu findet eine Prüfung der Absolventen des Medizinstudiums statt. Die, die am besten abschneiden, können anschließend die Disziplin und den Ort wählen, an dem sie arbeiten wollen.
Wie muss ich mir das genau vorstellen?
Angenommen ich möchte Kardiologe in Paris werden. Ein begehrter Ort und eine begehrte Disziplin. Wenn ich in der Prüfung besonders gut abschneide, dann ist es kein Problem, die freie Kardiologiestelle in Paris zu bekommen. Wenn ich in der Prüfung schlecht abschneide, habe ich keine Chance in der Kardiologie oder überhaupt in Paris zu arbeiten.
So ein Modell würde hier sicherlich zu Protesten führen, beispielsweise mit dem Argument der Berufsfreiheit.
Natürlich würde das eine politische Debatte aufwerfen. Aber dazu muss man sagen, es gibt kein Grundrecht, Spezialist zu werden. Es gibt aber ein Grundrecht der Bevölkerung auf ordentliche Versorgung und zwar mit gleicher Qualität, unabhängig davon, wo man wohnt.
Wenn wir eher ein Strukturproblem in der ärztlichen Versorgung haben, warum werden dann mehr Studienplätze für Mediziner*innen gefordert?
Die meisten Initiativen, die ich kenne, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, verfolgen die Idee, spezielle Ausbildungsstätten für Hausärzte zu schaffen. Genau die braucht es auch. Einfach normale Studienplätze auf die bereits vorhandenen draufzupacken, das macht überhaupt keinen Sinn. Das ist nur ein Pflaster auf eine große Wunde.
Wie kann man mehr Abiturient*innen überzeugen, Hausärzt*innen zu werden?
Das ist natürlich nicht so einfach. Aber aus einer ganzen Reihe von Staaten ist nachgewiesen, dass dabei vor allem zwei Faktoren eine Rolle spielen. Das eine ist die Rekrutierung aus dem ländlichen Milieu heraus. Das heißt, wenn es gelingt, mehr Abiturienten vom Land für eine ärztliche Ausbildung zu gewinnen, dann ist die Chance größer, dass sie auch in dieses Milieu zurückkehren. Der zweite Faktor ist ein Curriculum, das sich an der hausärztlichen Versorgung orientiert.
Also eigene Fakultäten für Hausärzt*innen?
Ich persönlich wäre sehr zufrieden, wenn es Ausbildungsstätten gäbe, die eine hohe Quote an Hausärzten produzieren. Es reicht natürlich nicht, jemanden einfach länger in eine Praxis zu schicken und dann wird sich seine Motivlage schon so drehen, dass er Hausarzt wird. Es muss einen längeren Anteil des Studiums in Praxen geben, der durch entsprechende Theorieveranstaltungen begleitet wird. Aber auch das wird zu Diskussionen führen, weil es Institutionen wie den Wissenschaftsrat gibt, die gewisse Forderungen an die Fakultäten haben.
Eine weitere Möglichkeit wäre die Landarztquote, die Studienplätze für solche Studierenden frei hält, die sich zur späteren Arbeit als Landarzt verpflichten. Wären sie dafür?
Ich habe überhaupt nichts dagegen, schon alleine deswegen, weil es keine Alternative gibt. Es geht mir dabei nicht um Moral, sondern um die reine Pragmatik. Das ist eine Lösung mit einer gewissen Chance auf Erfolg. An meinem Institut haben wir der Ausbildung in allgemeinmedizinischen Fragen durchaus einen höheren Stellenwert eingeräumt. Aber das bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Studierenden werden hier mit so vielen spezialisierten Versorgungsansätzen konfrontiert, dass sie denken, die müssen Spezialisten werden, weil sie sonst total unqualifiziert sind.
Hat der Spezialisierungswunsch auch etwas mit Prestige zu tun?
Es gibt eine Korrespondenz von Prestige und der Tätigkeit als Spezialist, die es im Zusammenhang mit der Ausübung eines sozialen Berufs nicht gibt. Und der hausärztliche Beruf ist ja teilweise auch ein sozialer Beruf.
In Ihrer Studie zu den Karriereverläufen von Ärzt*innen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die hausärztliche Versorgung auch deshalb schwieriger wird, weil mehr Frauen als Männer Hausärzt*innen werden. Wie hängt das zusammen?
Der frühere Hausarzt oder die frühere Hausärztin galt ja als jederzeit erreichbar und hat mindestens 50 Stunden in der Woche gearbeitet. Zwei Drittel der Absolventen sind heute Frauen und die Studie hat unter anderem gezeigt, dass sie eine andere Vorstellung vom diesem Beruf haben.
Welche ist das?
Die Frauen wollen in Teilzeit in einem Angestelltenverhältnis arbeiten und eine gewisse Work-Life-Balance haben. Verstehen sie mich nicht falsch, das alles hat gute Gründe und ich halte kein Plädoyer für den alten Typ des Hausarztes. Aber die zunehmende Zahl an Ärztinnen, die in Teilzeit und als Angestellte arbeiten wollen, hat negative Folgen für die hausärztliche Versorgung, weil es beispielsweise auf dem Land kaum Institutionen gibt, die diese Frauen einstellen.
Haben Sie diesbezüglich Lösungsvorschläge?
Man muss ein bisschen rumspinnen und nachdenken. Eigentlich müssen Versorgungszentren neuen Typs kreiert werden, also so etwas wie hausärztliche Gesundheitszentren. Dort können dann mehrere Ärztinnen und Ärzte arbeiten und ihren Dienstplan untereinander aushandeln. Diese Praxen müssen etwas zentralisierter in den kleinen Städten sein und die Patienten müssen dorthin gebracht und wieder abgeholt werden. So schön sie auch ist, die Idee vom Hausarzt um die Ecke in einem kleinen Dorf wird es nicht mehr geben.
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