Ägyptens Islamisten diskutieren: Programmstreit bei den Muslimbrüdern
Islamischer Staat oder Demokratie? Die größte Oppositionsbewegung debattiert über ihre Ausrichtung. Das Ergebnis wird andere gemäßigte islamistische Gruppen beeinflussen.
KAIRO taz Die Muslimbruderschaft, Ägyptens größte islamistische Oppositionsbewegung, ist in einen internen Richtungsstreit verstrickt. Dessen Ausgang dürfte auch Auswirkungen auf andere moderate arabische islamistische Gruppierungen haben, da die ägyptischen Muslimbrüder als geschichtlich älteste Organisation bei vielen anderen als Vorbild gelten.
Begonnen hat alles mit dem Versuch der Muslimbrüder, sich ein politisches Programm zu geben. Mitte des Monats veröffentlichte eine Gruppe von Intellektuellen und Politikern der Organisation einen Programmentwurf, der allerdings bisher nicht von der Führung der Gruppe abgesegnet wurde. Ein Teil der Gruppierung scheint sich auch unter dem ständigen Druck des Staates auf ultrakonservative islamistische Positionen zurückzuziehen. Das Dokument stellt die Scharia, das islamische Recht, in den Mittelpunkt und propagiert eine Vermischung von Staat und Religion. Ein Rat religiöser Rechtsgelehrter soll danach sogar das Recht haben, gegen Gesetzesvorlagen ein Veto einzulegen - ähnlich wie im Iran der Wächterrat. Der Entwurf diskriminiert auch Nichtmuslime, beispielsweise Kopten, und Frauen, denen das Recht abgesprochen wird, hohe Positionen im Staat einzunehmen.
Doch der Entwurf stieß schnell auf Kritik in den eigenen Reihen als Versuch, sich vom Konzept der Demokratie abzuwenden. Niemand Geringerer als Essam Erian, Vorsitzender des politischen Büros der Muslimbrüder, forderte kürzlich, dass hohe Staatsämter einzig und allein durch Wahlen bestimmt werden sollten. Islamische Rechtsgelehrte sollten als normale Bürger behandelt werden, ohne dass ihnen in der Verfassung eine besondere Rolle zukomme, erklärte Erian, der Mitte Oktober aus dem Gefängnis freikam, in einem Interview mit der arabischen Tageszeitung al-Hayat. Höhepunkt war seine Forderung, dass die Muslimbrüder, wenn sie an die Macht kämen, Israel aus pragmatisch politischen Gründen anerkennen sollten.
Viele von Erians Aussagen finden Resonanz unter der jüngeren Generation der Muslimbrüder. Einer ist der 27-jährige Internetblogger Mahmud Abdel Monem. Angefangen hat er im vergangenen Jahr mit seinem Internettagebuch "Ana Ikhwan - ich bin ein Bruder.com", nachdem er eine sechsmonatige Gefängnisstrafe abgesessen hatte. "Die Scharia ist meine Ideologie, von der ich lerne, aber Ägypten sollte einzig und allein als ziviler Staat gemäß der Verfassung regiert werden. Die steht über allem", meint Abdel Monem. In einer Demokratie liege die letzte Gewalt beim Volk, sagt er. "Wenn das Volk eine Frau oder einen Christen zum Präsidenten wählt, muss ich das respektieren", erläutert er seine Position. "Saudi-Arabien ist ein tyrannischer Staat im Namen des Islam", antwortet er auf die Frage, welches gegenwärtige politische System ihm als Vorbild dient. Abdel Monem schwebt vielmehr das türkische Modell vor, in dem die Islamisten als zivile Partei neben anderen agieren.
Noch ist offen, wie der Richtungsstreit unter den Muslimbrüdern ausgehen wird. Amr Hamzawi von der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden ist skeptisch. "Die Muslimbrüder sehen sich einem repressiven Staat gegenüber, der ihre politische Teilnahme am System einschränkt", beschreibt er die Lage. "In dieser Atmosphäre ist es unwahrscheinlich, dass nichtmilitante religiöse Oppositionsbewegungen sich voll und ganz demokratischen Normen und Prinzipien verschreiben."
Tatsächlich steht Ägyptens größte Oppositionsbewegung unter Druck. Fünf der zwölf Führungsmitglieder der Muslimbruderschaft sind in den letzten Monaten festgenommen worden. Fast 40 ihrer Finanziers, islamistische Geschäftsleute, müssen sich vor einem Militärgericht verantworten. Über 600 Mitglieder waren im Laufe des Jahres nach Angaben der Organisation verhaftet worden, über 160 sollen sich noch in Haft befinden. Warum das Ganze, fragt der stellvertretende Chef der Muslimbruderschaft, Mohammed Habib, der seine Organisation als einen friedlichen und moderaten Ableger des politischen Islam charakterisiert. "Wir sind es, die junge Menschen davon abhalten, sich dem gewalttätigen radikalen Islamisten anzuschließen", argumentiert er. Von der Regierung wolle sich seine Gruppierung nicht provozieren lassen.
Der säkulare ägyptische Journalist und Chefredakteur der unabhängigen Tagezeitung al-Dustur, Ibrahim Eissa, ärgert sich darüber, dass undemokratische arabische Regimes immer wieder Unterstützung aus dem Westen bekommen, indem sie sich als letztes Bollwerk gegen die Islamisten vermarkten. "Die Wahrheit ist, dass diese Regimes eine Atmosphäre schaffen, die den Boden für radikale islamistische Trends bereitet", sagt Eissa und warnt: "Nicht trotz, sondern gerade wegen der Vorgehensweise des ägyptischen Regimes wird das Land eines Tages den radikalen Islamisten wie ein reifer Apfel zufallen."
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