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Absetzung von Dilma RousseffEin Ende ohne Würde

Mit dem Vollzug der Amtsenthebung der Präsidentin geht die PT-Ära zu Ende. Der parteipolitische Streit über die Umstände dauert an.

In Sao Paulo demonstrieren Anhänger_innen von Dilma Rousseff gegen Michel Temer Foto: ap

Rio de Janeiro taz | Machtwechsel in Brasilien. Präsidentin Dilma Rousseff ist ihres Amts enthoben worden. 61 der 81 Senatoren stimmten am Mittwoch für die Absetzung der bereits suspendierten Staatschefin. Damit wurde die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht. Rousseff werden illegale Haushaltstricks vorgeworfen. Der Senat hat nach einer mehrtägigen Marathonsitzung befunden, dass es sich dabei Verbrechen handelte, und Rousseff für schuldig befunden. Damit ist die gut 13-jährige Regierungsperiode der Arbeiterpartei PT definitiv beendet.

Die gegensätzlichen Positionen wurden in den letzten Stellungnahmen von Gegnern und Befürwortern der Amtsenthebung deutlich. PT-Senator Lindbergh Farias bezeichnete das Verfahren als „politisch motivierte Farce“. Die Geschichte werde diese Senatsentscheidung revidieren. Senator Ronaldo Caiado wiederum verteidigte Rousseff Amtsenthebung als gerecht, weil sie „die Haushaltsregeln aus populistischen Gründen verletzt“ habe.

In mehreren Städten kam es am Mittwoch zu Demonstrationen gegen die Amtsenthebung und gegen Übergangspräsident Temer. Zu Wochenbeginn war es in der Metropole São Paulo zu Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und der Polizei gekommen. Brennende Barrikaden und Straßenblockaden verursachten ein Verkehrschaos.

Es ist die große Stunde von Michel Temer. Nach fünf Jahren Vizepräsident und gut drei Monaten Übergangspräsident regiert der 75-jährige nun des größte Land Lateinamerikas bis zum Ende der Wahlperiode im Dezember 2018. Weder Charisma noch Redegewandtheit zeichnen ihn aus, er ist ähnlich unbeliebt wie seine Vorgängerin. Doch er ist ein begnadeter Strippenzieher und kennt sich im Geben und Nehmen des Politikbetriebs bestens aus. Seit 1994 war seine Partei PMDB an allen Regierungen Brasiliens beteiligt, völlig unabhängig von der jeweiligen politischen Ausrichtung. Unter Rousseff trug er eine halblinke, sozial ausgerichtete Politik mit, jetzt kommandiert er einen Rechtsruck mit neoliberalem Sparprogramm und Privatisierungen.

Nicht mit rechten Dingen

Temer hatte im Senat sehr auf Eile gedrängt, um noch diese Woche als legitimer Präsident zum G20-Gipfel nach China zu reisen. Es soll sein erster wichtiger Auftritt werden. Auf internationaler Bühne muss er allerdings gegen den Anschein ankämpfen, dass bei seiner Machtübernahme nicht alles mit rechten Dingen zuging. Rousseff bezeichnet ihn als „Verräter und Usurpator“, das Verfahren ist für sie ein „Staatsstreich“. Ihre Widersacher beharren hingegen darauf, dass alles verfassungskonform gelaufen sei. Ausgangspunkt der Fehde war, dass die PMDB und weitere Koalitionspartner Ende April zur konservativen Opposition überliefen und so den Sturz von Rousseff per Amtsenthebung betreiben konnten.

Dass Rousseff im Zuge einer heftigen Wirtschaftskrise und aufsehenerregender Korruptionsermittlungen ihre Unterstützung verlor, ist unbestritten. Doch für ein Amtsenthebungsverfahren ist der Nachweis eines Verbrechens im Regierungsamt notwendig. Rousseff, ihre Arbeiterpartei und Unterstützer als sozialen Bewegungen halten die ihr vorgehaltenen illegalen Haushaltstricks für einen Vorwand. Für sie hat der Machtwechsel zwei Gründe: Zum einen soll die politische Klasse vor eben jenen Korruptionsermittlungen geschützt werden, die von vielen Beteiligten lange Zeit nur deswegen vorangetrieben oder unterstützt wurden, um die PT und ihre Regierung in die Enge zu treiben.

Dass Temers Übergangsregierung wegen Bestechungsvorwürfen bereits drei Minister verlor, zeigt, wie gefährlich ihnen die Ermittlungen geworden sind, die Rousseff gewähren ließ und die nun möglicherweise im Sande verlaufen werden. Andererseits geht es um die Revidierung des Wahlergebnisses von 2014. Die brasilianische Elite, also Unternehmer, Medien und rechte Parteien, wollten nach zwölf Jahren erfolgreicher PT-Regierung unbedingt den Machtwechsel.

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6 Kommentare

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  • 6G
    65522 (Profil gelöscht)

    Suchbegriff "Bildungssystem in Brasilien" , dann sehen sie vor welchen Herausforderungen Brasilien steht um annähernd an Europa heran zu reichen. Es lässt vielleicht sogar eine Schlußfolgerung über das politische System und seinen wirklichen Wirkungsgrad und die politische Schicht zu, die daran nicht unschuldig ist.

    Wahrscheinlich soll das auch so bleiben.

    Haushaltstricks, ist das sowas wie Rentenerhöhung vor Wahlen ?

    Wer z.Bsp. das Bildungsniveau innerhalb überschaubarer Zeiträume auf Allgemeinbildung anheben will ist schon von daher gezwungen Geld in Sozialsysteme umzuleiten. Welche Wirtschaft auf welchem Weg zur Weltspitze ?

    Absetzung nach erfolgreicher Wahl, durch Wahlverlierer, könnte Schule machen, sie SPD denkt ja auch mit 22 % über Bundeskanzler nach.

  • Die Jahre der PT-Regierungen waren keineswegs so erfolgreich, wie Herr Behn schreibt!

    Damals, als die PT antrat, gehörte Brasilien zu den BRICS-Staaten, deren Wirtschaft auf dem Weg zur Weltspitze war. Dank der boomenden Wirtschaft hatte die Regierung gute Möglichkeiten, die verfügbaren Mittel auch für soziale Zwecke zu verwenden.

     

    Allerdings versäumten die PT-Regierungen, diesen Trend aufrecht zu erhalten. Das Land schlittert seitdem in die Wirtschaftskrise, auch die Roussew-Regierung änderte nichts daran. Das war der eigentliche Grund für ihre Entmachtung, die Bestechungsvorwürfe waren nur noch der Anlass.

     

    Möglicherweise wird sich die Wirtschaft dank Temer‘s neoliberaler Politik wieder erholen und er selbst wird im Volk genau deswegen so unbeliebt sein, dass Frau Roussew die nächsten (oder übernächsten) Wahlen haushoch gewinnt.

     

    Dann wird auch wieder genug Geld für Sozialprogramme da sein!

  • In 2 Jahren sind wieder Wahlen. Wenn Temer bis dahin seine neoliberale Linie so richtig durchzieht, dürfte es für Lula nicht schwer werden, dieses Zwischenspiel zu beenden.

     

    Um die Arbeiterpartei dauerhaft von der Macht fern zu halten, müssten die neuen Machthaber eine kluge, ausgewogene Politik betreiben. Es sieht aber nicht danach aus.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Oder aber weitreichend die Medienlandschaft für sich gepachtet haben. Und danach sieht es leider sehr aus, wie man die letzten Jahre eindrucksvoll sehen konnte.

      • @Bjar:

        Die Medienlandschaft ist schon immer gegen die linke Regierung aufgetreten. Trotzdem musste man zum kalten Putsch greifen, um die alten Eliten wieder an die Macht zu bringen. Die große Mehrheit der armen Brasilianer lässt sich also nicht so einfach blenden. Haben wir doch einfach mal etwas Vertrauen.

  • Es sollte doch mal etwas ruhiger geschrieben werden. Temer ist zweimal in der "chapa" mit Dilma angetreten und hat ihr an verschiedenen Orten (insb. Rio) wichtige Stimmen verschafft.

     

    Des Weiteren muss man Dilma schlicht eine hundsmiserable Regierungsarbeit bescheinigen. Sie hat es tatsächlich geschafft eine boomende Wirtschaft völlig abzuwürgen, wobei Lula gut vorgearbeitet hat in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit.

     

    Wichtigste Beraterin war ihre über 90jährige Mutter. Ohne damit deren Sachverstand in Frage zu stellen, muss sie sich doch den Vorwurf der politischen Blindheit gefallen lassen. Dazu noch ihre dubiose Rolle als Petrobrás-Aufsichtsratschefin.

     

    Zu der Sache mit dem Establishment usw. sei angemerkt, dass Dilma etwa 90Millionen Reais mehr in ihren Wahlkampf stecken konnte als ihr Widersacher Aecio und sie die dritte Kandidatin Marina mit ziemlich bösartigen Behauptungen aus dem Feld geschlagen hat.

     

    Das Temer korrupt ist, ist ja auch juristisch bestätigt, spricht aber eher Bände über Brasiliens politische Klasse in Gänze, denn nur über ihn.

     

    Quellen (sind jetzt leider nicht die Allerbesten, aber haben mehr Fleisch an den Knochen als das was im Artikel behauptet wurde):

     

    Wahlkampfspenden http://www.gazetadopovo.com.br/vida-publica/dilma-e-aecio-gastaram-r-574-mi-na-campanha-egmrn9nwme9ioympujocakojy

     

    Bezüglich Marina http://oglobo.globo.com/brasil/dilma-aumenta-tom-acusa-marina-de-ter-desvio-de-carater-14096961

     

    Bezüglich der Petrobráskrise http://ultimosegundo.ig.com.br/politica/2016-05-17/pt-nao-inventou-corrupcao-mas-sistematizou-atuacao-partidaria-acusa-delcidio.html