Abschiedstour von Londoner Stereolab: Gut gealterte Kopfhörersuperhirne

Stereolab kommen auf finale Tour. Ihr stilvoller Pop zitiert auch das Debütalbum des Krautrockduos Neu!, das nun erneut veröffentlicht wird.

Stereolab, ca 1997: Tim Gane, Mary Hansen, Laetitia Sadier, Andy Ramsey, Morgane Lhote

Stereolab, etwa 1997: Tim Gane, Mary Hansen, Laetitia Sadier, Andy Ramsey, Morgane Lhote Foto: Dave Cowlard

Die Musik der britischen Band Stereo­lab ist Pop von rockenden Plat­ten­samm­le­r:in­nen. Wenn der britische Kulturkritiker Simon Reynolds, Spezialist für alles Retro­manische, so eine Diagnose formuliert, ist sie kein Negativurteil. Sondern wirkt so, dass man Lust bekommt, diese Alben nach vielen Jahren wieder zu hören: „The ultimate record-collection rockers.“

Und weil das süß-versponnene Nerdtum, das sich im Werk von Stereolab stets mit artikuliert, schon immer dazu neigte, mehr und mehr Stränge, Genres, Sounds und Pluckereien ins eigene System hineinzuziehen, hat sich dieser Sound im Laufe der inzwischen dreißigjährigen Bandgeschichte immer wieder gewandelt. Und ist doch stoisch gleich geblieben.

Die Konstante bildet das bandeigene Stilbewusstsein, entlang dessen sich alles hier sortiert. Los ging das mit statischen Farfisa- und Moog-Space-Reisen, oft auch mit leicht verkrachter Shoegaze-Gitarre, über einem statischen Beat. Und über allem der Gesang von Lætitia Sadier und der 2002 durch einen tragischen Fahrradunfall verstorbenen Mary Hansen.

Lakonisch in die Revolte

Stereo­lab-Songs klingen sehr schön und lakonisch und vermeiden trotzdem die im Indie-Kosmos sehr verbreitete Anmutung engelhafter Entkörperlichung von Frauenstimmen. Um stattdessen mit einer Klangsignatur im Rücken, die in den späteren Werkphasen die Noise- und Feedback-Reste mehr und mehr verabschiedet hatte, in einem bezaubernden englisch-französischen Sprachmix zur Revolte aufzurufen.

Stereolab: „Pulse of the Electric Brain“ (WARP/Rough Trade)

Live: 14. 11., Freiheitshalle. München; 15. 11., UT Connewitz, Leipzig; 17. 11., Huxleys, Berlin; 18. 11., Uebel & Gefaerlich, Hamburg; 19. 11., Zakk, Düsseldorf

Neu!: „50!“ (Grönland/Rough Trade)

Auch der größte Hit der Band, „French Disko“ von 1995, ist gut gealtert: „I’ve been told it’s a fact of life / Men have to kill one another / Well I say there are still things worth fighting for / La Resistance“. Muzak als Klassenkampf, und, wie zum Beispiel Musikkritiker Martin Büsser damals kritisch anmerkte, Klassenkampf als Muzak.

Nach zehnjähriger kreativer Pause – währenddessen wurden diverse Solo- und anderen Bandprojekte vorangetrieben –, die 2019 endete, scheint die Geschichte von Stereolab nun tatsächlich dem Ende entgegenzugehen. Die kommende Woche startende Deutschland-Tour wird wohl die letzte sein, und das aktuelle Album „Pulse of the Electric Brain“ das finale. Oder, wie die Band schreibt, „possibly the final edition“. Das System wird immer offen gehalten, bis zum Schluss.

Durch den gesamten Bandkosmos

Die „Switched on“-Serie versammelt alles, was nicht auf den Alben der Band Platz fand. Die fünfte Folge führt noch einmal durch den gesamten Bandkosmos. Der schöpft, auch wenn vielen diese Musik gleichförmig erscheinen mag, aus einem Ozean an Sounds, Instrumenten, Traditionssträngen und Genres.

Brasilianischer Pop, ein bisschen Punk, La Monte Youngs Theatre of Eternal Music, minimalistischer Rock ohne Ornamente, Minimalismus generell, viel Krautrock und vor allem Spaß an prototypischen Analog-Synthesizern; überhaupt alles, was blubbert, repetitives Schlagzeug, Chanson, aber auch britische Experimentalmusik.

Tim Gane, Stereolab-Gitarrist und Sythesizermensch, hat 1993 in einem Interview den Bandnamen mit britischen Alben zur Testung von Stereoanlagen aus den fünfziger und sechziger Jahren verknüpft: „Uns gefiel der Name, weil er seinerzeit als futuristisch galt, heute aber alt und kitschig wirkt.“

Puls des elektronischen Gehirns

Die Retro-Ästhetik, die sich auf möglichst Obskures bezieht und trotzdem immer Pop bleibt, erscheint 30 Jahre nach diesem Interview noch einmal gedoppelt: die Retromanie der Neunziger, auf die man heute auch längst mit nostalgischem Blick zurückschaut. Ein hübscher Widerspruch dann aber, dass „Pulse of the Electric Brain“ mit zwei bislang nur auf inzwischen teurem Vinyl zu bekommenden Stücken beginnt, die wirken wie aus jeder Zeit gefallen und also zeitlos sind.

„Simple Headphone Mind“ und „Trippin’ with Birds“ sind in Kollaboration mit dem britischen Industrialmusic-Kollektiv Nurse with Wound (die „ultimate record-collection Avantgarde“) entstanden. Eine halbe Stunde lang fließen Sounds, Gitarreneffekte, Samples und durch viele Prozessoren gejagte Stimmen über einem reduzierten Beat zusammen und wieder auseinander. Es hallt, zerrt und ist alles maximal verpilzt.

Harmonische und trotzdem unheimliche Trip-Musik, die zum Besten gehört, was in der an Schönheit nicht armen Laufbahn von Stereolab entstanden ist. Die anderen 14 Stücke bilden diese Geschichten exemplarisch ab, und dazu gehört dann eben immer wieder etwas Leerlauf. Aber eben auch und vor allem zahlreiche Tracks, bei denen es arg schade gewesen wäre, wenn sie im Bandarchiv verschwunden wären.

Neu! 1972, Michael Rother, unbekanntes Kind und Klaus Dinger

Neu! 1972, Michael Rother, unbekanntes Kind und Klaus Dinger Foto: Peter Lindbergh

Blaue Milch

Easy-Listening-artiges wie „Forensic Itch“, Loungepop („Unity Purity Occasional“), ein heimlicher Indie-Gitarrenhit („Robot Disco“), die Coverversion eines Stücks vom Düsseldorfer Filmmusikkomponisten Peter Thomas („Blaue Milch“), das so nur in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat entstehen können. Sehr toll auch, à propos Neunziger-Jahre-Elektronik, wie das nordenglische Duo Autechre „Refractions in the Plastic Pulse“ zerklöppelt.

Das aller Wahrscheinlichkeit nach Abschiedsalbum schließt mit einer Live-Aufnahme von „Cybele’s Reverie“ und damit mit so etwas wie dem perfekten Pop-Chanson. Den Anfang aber macht mit „Simple Headphone Mind“ die experimentierfreudige Klangforscher-Seite von Stereo­lab, die daran erinnert, wie viel Krautrock in den hier ausgewerteten Plattensammlungen drinsteckte. „Simple Headphone Mind“ lässt sich auch als Variante des Stücks „Hallogallo“ der Band Neu! hören.

Damit wären wir bei einer weiteren Wiederveröffentlichung, die die Ideen von einst editorisch feiert: Zum fünfzigjährigen Veröffentlichungsjubiläum des Debütalbums von Neu!, 1972, werden alle Alben des Düsseldorfer Krautrockduos in einem Boxset gefeiert. Man kann noch mal nachhören, wie einflussreich die Mischung aus Repetition und kosmischen Sounds gewesen ist, die Michael Rother und Klaus Dinger damals entwickelt haben.

Gemischte Übertragungen

Teil der Box ist ein Tribute-Album, auf dem stilistisch unterschiedliche Bands Neu!-Songs covern oder den charakteristischen Sound der beiden Musiker zum Ausgangspunkt für Eigenkompositionen nehmen. Die Übertragungen funktionieren mal sehr gut, zum Beispiel bei Mogwais elegischer Postrock-Breitwand „Super“ und der frohsinnigen Rave-Version von „Hallogallo“, die Stephen Morris (New Order) und Gabe Gurnsey beigesteuert haben. Fink spielen das Stück „Weissensee“ als brütenden Slowcore. Die Remixe von The National und Man Man dagegen verpuffen irgendwie im Belanglosen.

Beide Rückblicke, die Stereo­lab-Compilation und die Box von Neu!, erinnern an einen Strang in der Popgeschichte, der weiterhin präsent bleibt und angenehmen Eskapismus verspricht. Bands, die sich ein eigenes Sound-Universum bauen und das dann konstant ausdifferenziert gestalten.

In beiden Fällen sind das eher introvertierte Unternehmungen, die wegwollen von Expressivität und großen Gesten. Gitarrensoli findet man auch in den Rockstücken von Stereolab keine und rumgeschrien wird auch nicht. Stattdessen Tüftelei und Idiosynkrasie – bei gleichzeitiger maximaler Offenheit. Man muss kein Nerd sein, um das, was Stereolab fabrizieren, zu mögen. Es ist egal, ob man die zahllosen Verweise und musikhistorischen Nischen kennt, aus denen hier geschöpft wurde.

Der Minimalismus von Neu! ist eh voraussetzungslos. Neben vielem anderen, was man über die Musik von Stereolab und Neu! sagen könnte, fällt beim Wiederhören zuallererst auf, wie radikal einladend sie klingt.

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