Abschiedskultur in Niedersachsen: Pistorius schmeißt Jesiden raus
Nach rechtswidriger Abschiebung wird Niedersachsen eine Mutter und drei Kinder, die aus Syrien flohen, nicht aus Bulgarien zurückholen. Nun sollen Vater und Sohn folgen.
Laut ihrem Anwalt gehört die Familie zur Gruppe der Jesiden. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte den Antrag der Familie auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebung Ende letzter Woche abgelehnt. Auf der Grundlage dieser Entscheidung bestehe „keine rechtliche Möglichkeit, diejenigen Familienmitglieder zurückzuholen, die sich gegenwärtig in Bulgarien aufhalten“, sagte Matthias Eichler, Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums. Nun werde man dem Familienvater noch einmal die „Möglichkeiten einer freiwilligen Ausreise erörtern“.
Der Vater und ein 14-jähriger Sohn leben noch in Deutschland, weil sie in der Nacht der Abschiebung zum 3. Februar nicht zu Hause waren. Vor drei Wochen hat die Ausländerbehörde beiden eine Abschiebeandrohung zugestellt, „um die formalen Voraussetzungen für eine Ausreise zu schaffen“, so Sonja Wendt, Sprecherin der Region Hannover.
Der Fall setzte die rot-grüne Landesregierung in den vergangenen Wochen unter Druck: Die Abschiebung war rechtswidrig, weil die Ausländerbehörde der Region Hannover der Familie zuvor keine neue Abschiebeandrohung ausgestellt hatte – wie das Verwaltungsgericht Hannover urteilte. Wochenlang hatte sich der niedersächsische Flüchtlingsrat für die Rückholung von Mutter und Kindern eingesetzt und dabei auf deren schwierige Lage in Bulgarien verwiesen: Weil sie in dem Land bereits anerkannte Flüchtlinge seien, fühlten sich die bulgarischen Behörden nicht mehr für sie zuständig, sagt Kai Weber vom Flüchtlingsrat: „In den staatlichen Unterkünften wies man sie ab, also sind sie auf der Straße gelandet.“ Inzwischen seien Mutter und Kinder in einem Hotel am Stadtrand von Sofia untergebracht, sagt der Anwalt der Familie. Finanziell unterstützt würden sie von einem Angehörigen, der aus Deutschland nach Bulgarien gereist sei.
Die Lage für Flüchtlinge in Bulgarien wird von unter anderem von der NGO Pro Asyl kritisiert.
Sie würden misshandelt, erniedrigt, im Stich gelassen, erklärt die Organisation und spicht von „systematischen Mängeln im bulgarischen Asylsystem“.
Syrische Flüchtlinge berichten von willkürlichen Inhaftierungen.
Die medizinische Versorgung sollen die Behörden ihnen auch in Notfällen verweigert haben.
Selbst anerkannte Flüchtlinge sollen in Bulgarien von Obdachlosigkeit betroffen sein.
Zu rassistischen Überfällen käme es immer wieder, sie würden vom Staat nicht geahndet.
Pro Asyl fordert deshalb die Aussetzung der Dublin-Abschiebungen nach Bulgarien.
Nach Bulgarien zurück sollte die Familie, weil sie dort zuerst Asyl beantragt hatte. Gemäß der Dublin-Regelung ist das EU-Land damit für sie zuständig. Umstritten ist aber, ob Bulgarien überhaupt ein „sicheres Land“ für Flüchtlinge ist. Hilfsorganisationen wie Pro Asyl berichten von Misshandlungen und systematischen Mängeln im Asylsystem (siehe Kasten).
Ein generelles Abschiebeverbot in das Land hatte aber auch das Verwaltungsgericht Hannover in seiner Entscheidung nicht ausgesprochen. Dagegen war der Anwalt der syrischen Familie in Berufung gegangen. Ohne Erfolg.
Der Fall offenbart das juristische Wirrwarr im deutschen Asylrecht: Eine frühere Abschiebeandrohung vom Oktober 2015 war im Juli aufgehoben worden, die Familie bekam den „subsidiären“ Schutzstatus. Dieser wurde im September zwar wieder ausgesetzt, eine neue Ausreiseaufforderung gab es damals jedoch nicht. Aus diesem Grund sei die „Gefahr einer Abschiebung“ nicht gegeben, hieß es dann auch Ende Januar in einem richterlichen Schreiben an den Anwalt der Familie, das auch an die Ausländerbehörde ging.
„Die rot-grüne Landesregierung hat versprochen, keine Familien auseinander zu reißen und es nun doch getan“, sagt Weber vom Flüchtlingsrat. Vor dem Hintergrund früherer Versprechen sei das Vorgehen der Ausländerbehörde fragwürdig: Schließlich habe Innenminister Boris Pistorius vor vier Jahren einen „Paradigmenwechsel“ in der Flüchtlingspolitik versprochen – sein Vorgänger Uwe Schünemann (CDU) galt in Asylfragen als Hardliner, Pistorius aber sprach damals von „mehr Menschlichkeit“.
Von einer „Willkommenskultur“ könne man in Niedersachsen nicht mehr reden, findet Weber: „Die politische Debatte dreht sich vor allem darum, wie schneller abgeschoben werden kann. Die eigentlichen Baustellen, etwa die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, werden kaum thematisiert.“
Dass das Ministerium nun offenbar klare Kante zeigen wolle, geschehe aus „Angst vor den Rechtspopulisten“, so Weber. Die sitzen zwar nicht im Landesparlament, „aber dennoch bestimmen sie die Agenda“.
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