Abschied vom Friedensvertrag: Mekelle, eine Liebeserklärung
Ein Portrait der Hauptstadt der äthiopischen Region Tigray, die Äthiopiens Armee jetzt eingenommen haben soll und über die ein News-Blackout herrscht.
In Äthiopien spitzt sich der wochenlange Kampf zwischen der Landesregierung und der Regierung der Region Tigray weiter zu. Am Samstag meldete Ministerpräsident Abiy Achmed, dass Mekelle, die Haupstadt der Region Tigray, von der Armee erobert sei. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier das folgende Portrait der Stadt.
Lasst uns von Mekelle erzählen. Machen wir uns ein Bild von dieser Stadt, ihrer gepflasterten kleinen Straßen im Schatten duftender blauer Jacaranda-Bäume, der eher ländlichen Atmosphäre eines Ortes, der vor dreißig Jahren nichts als eine Garnisonsstadt umgeben von Bauernsiedlungen war. Mekelle ist ursprünglich eine Ebene, fruchtbar, offen, windig, umgeben von sanften Bergen am östlichen Rand des Hochlands, dort wo das festungsartige Gebirge und die zerklüfteten Täler des inneren Tigray auf die Straßen zu den anderen Territorien Äthiopiens und zum Rest der Welt treffen.
Zwei Schlösser aus dem späten 19. Jahrhundert zählt die Stadt, eines heute eine staatliche Residenz mit verblichenem Charme, eines renoviert und neuerdings für die Öffentlichkeit zugänglich, als Erinnerung an das Schicksal dieses Ortes, der die territorialen Entitäten Tigrays zusammenführte bevor er zum Sitz von Yohannes IV wurde, König der Könige, einer jener Souveräne, der Äthiopien vereinigte und vor äußeren Angriffen schützte – aus Ägypten, aus Italien, aus Sudan.
Die Tigrayer von heute sehen sich als die Erben jener Verantwortung zur Landesverteidigung und sie verstehen nicht die allgemeine Feindseligkeit, die man ihnen entgegenbringt. Sie haben nicht alle davon profitiert, dass ihre Führungselite sich Posten auf Bundesebene und in den großen Staatsbetrieben sicherte, und sie haben sich sogar vernachlässigt gefühlt durch jene, die in den vergangenen drei Jahrzehnten in Addis Abeba herrschten.
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Wie überall in Äthiopien hat die Stadt ihr Gesicht rasch verändert. In wenigen Jahren förderte der Wirtschaftsboom im Rahmen einer Politik der Planung öffentliche Bauten: Universitätsgelände, Krankenhäuser, Flughafen, Stadion. Die Stadt breitete sich aus, mittels breiter Hauptstraßen flankiert von Glasfassaden bis zu den Vorstädten aus einfachen Häusern mit Wellblechdächern.
Am Rande der Stadt, auf der dem Inneren Tigrays zugewandten Seite, feiert eine große Betonsäule mit vier Pfeilern und einer goldenen Kugel an der Spitze die Märtyrer der Befreiung, die gegen die nationalistische militaristische Tyrannei von Mengistu Haile Mariam gekämpft hatten, die die grausame Hungersnot von 1984 überlebt hatten, die den Sieg davontrugen, indem sie sich mit anderen Völkern verbündeten, um ein neues föderales politisches Projekt zu begründen. Es brauchte lange Zeit, es war unvollkommen, ungleich, sogar diskriminierend, aber es bot neue Mechanismen, um Äthiopiens tiefe regionale Ungleichgewichte zu korrigieren.
Mekelle ist nicht nur eine Stadt des historischen Gedächtnisses, es ist auch eine Stadt der Sorglosigkeit, eine junge Stadt, getrieben vom Lärm der allgegenwärtigen blau-weißen Rikschas. Es ist eine reinliche Stadt, wo jeder Gehweg eine Terrasse ist, auf der kleine Hocker verstreut sind, um einen äthiopischen Kaffee zu trinken, zubereitet in Terracotta. Der öffentliche Raum ist frei, entspannt, nicht nonchalant aber dynamisch wie die Jugend, die darauf hoffte, der ewigen Wiederkehr früheren kriegerischen Eifers zu entkommen.
Und heute ist der Ausgang der Kämpfe um Mekelle unklar, aber sein Stolz ist intakt.
Eloi Ficquet lehrt Geschichte und Ethnologie des Horns von Afrika an der Pariser École des Hautes Études en Scienes Socales (EHESS). Dies ist eine leicht gekürzte Fassung eines Textes vom 26. November 2020, der ursprünglich in Libération erschienen ist, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzung aus dem Französischen: Dominic Johnson
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