Abschiebungen von Jesiden: Schutzversprechen auf der Kippe
Vor einem Jahr hat sich die Bundesregierung zum Schutz jesidischen Lebens verpflichtet. Besonders in der Asylpolitik scheint sie das zu verfehlen.
„Wir wissen immer noch nicht, wie wir uns hier sicher fühlen sollen“, sagt Hakeema Taha. Die 28-Jährige hat den Völkermord an der jesidischen Religionsgemeinschaft durch den Islamischen Staat (IS) 2014 überlebt, ist der IS-Gefangenschaft entkommen und über ein Sonderkontingent des Landes Baden-Württembergs nach Deutschland gelangt. Zwar habe sie eine langfristige Bleibeperspektive, aber dennoch Angst, „auch irgendwann abgeschoben zu werden. Obwohl ich hier arbeite und die Sprache lerne.“
Heute vor einem Jahr, am 19. Januar 2023, hat der Deutsche Bundestag den Völkermord an den Jesid*innen durch den IS einstimmig anerkannt und einen weitreichenden Maßnahmenkatalog zur Aufarbeitung und Unterstützung der Betroffenen beschlossen. Unter anderem sollen am Genozid beteiligte IS-Verbrecher*innen verfolgt und bestraft werden, Entwicklungsgelder in die jesidischen Gebiete in Nordirak fließen und eine zentrale Gedenkstätte in Deutschland entstehen.
Man wolle sich „mit Nachdruck zum Schutz jesidischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen“, so der Beschluss. Die besondere Verantwortung ergebe sich einerseits daraus, dass in Deutschland die größte jesidische Diaspora lebe. Zudem seien deutsche Staatsbürger*innen an den Taten beteiligt gewesen. Laut Verfassungsschutz rekrutierte der IS seit 2012 etwa 1.000 Personen.
Wie grausam der IS gegen die Jesid*innen vorging, lässt sich aus Hakeemas Erzählungen nur erahnen. Vor 9 Jahren lebte sie noch in ihrem 1.700-Seelen-Dorf Kocho, am Rande der jesidischen Gebiete. „Als die Nachricht des Angriffs uns erreicht hat, haben wir versucht, noch schnell in die Berge, in die kurdischen Gebiete zu fliehen. Doch der Weg war versperrt. Wir hatten Angst und sind zurückgekehrt.“
Selektiert, versklavt und ermordet
Tage später, am 15. August 2014, „genau um 11 Uhr“, erinnert sie sich, greifen die IS-Terroristen dann an. Sie pferchen alle Bewohner*innen nach Geschlechtern getrennt in der Schule zusammen, beginnen zu selektieren und zu morden. Hakeemas 60-jährige Mutter wird als zu alt erachtet, um den Terroristen geeignete Dienste erweisen zu können. Sie wird erschossen.
Ihr Vater, sieben ihrer Brüder, vier Neffen, die Schwiegermutter und ihre älteste Schwägerin – auch sie werden an jenem Tag erschossen. Als Hakeema nach ihrer Familie fragt, wird ihr gesagt, dass sie umgebracht wurde, dass sie sie vergessen solle, dass die Terroristen jetzt ihre neue Familie seien. „In diesem Moment wollte ich auch sterben“, sagt sie.
Über 300.000 Menschen verloren durch den IS-Angriff ihr Zuhause, zehntausende wurden ermordet. Tausende Frauen und teilweise unter 10-jährige Mädchen wurden von IS-Männern verschleppt, verkauft und systematisch vergewaltigt. Über 2.700 Menschen werden noch immer vermisst.
Ein Jahr nach dem großen Schutzversprechen des Bundestages für die Jesid*innen fällt die Handlungsbilanz gemischt aus. Zwar heben Derya Türk-Nachbaur (SPD) und Michael Brand (CDU), die unter anderem die Genozid-Anerkennung verhandelt haben, die Wichtigkeit und die Symbolkraft der Genozid-Anerkennung durch den Bundestag an sich hervor. Und ihr Kollege Peter Heidt (FDP) sagt, die Bundesregierung habe „einiges auf den Weg gebracht.“ Jedoch bestehen außen- sowie innenpolitisch noch erhebliche Baustellen.
Jede*r zweite Jesid*in wird abgelehnt
Trotz eines Irak-Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock im März 2023 und Entwicklungsgeldern in Millionenhöhe ist es bisher nicht gelungen, mit der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalverwaltung eine sichere Rückkehrperspektive für die hunderttausenden, in Camps lebenden Binnenvertriebenen zu entwickeln.
Auch das Auswärtige Amt räumt ein, die Sicherheitslage in der Region Sindschar sei weiterhin instabil. Laut dem aktuellen internen Irak-Lagebericht, der der taz vorliegt, könne der irakische Staat den Schutz religiöser Minderheiten nicht sicherstellen, diese litten unter „weitreichender faktischer Diskriminierung.“ Dennoch wurden allein im Jahr 2023 knapp 1.400 Asylerstanträge von Jesid*innen abgelehnt. Die Schutzquote liegt bei unter 50 Prozent, etwa jede*r zweite Jesid*in wird abgelehnt.
Ob der volatilen Sicherheitslage in Sindschar und der fehlenden Rückkehrperspektive, „die auch der Nato-Partner Türkei mitverantwortet“, so Max Lucks von den Grünen, sei es unverantwortlich, dass Deutschland Jesid*innen in den Irak abschiebe, sagt er. Er sieht das Bundesinnenministerium (BMI) in der Pflicht, den Jesid*innen einen humanitären Schutzstatus zuzugestehen. „Es braucht ganz einfach einen entsprechenden Paragrafen im Aufenthaltsgesetz.“
Auch Peter Heidt von der FDP betont die besondere Situation der Jesid*innen. „Ihre Traumata kommen bis heute wieder hoch. Sie sollten nicht abgeschoben werden.“
Der IS ist noch nicht weg
Unterstützung gibt es dafür auch aus der Opposition. Clara Bünger (Linkspartei) betont das selbstgesetzte Versprechen der Bundesregierung. „Der Bundestag hat die Genozid-Anerkennung einstimmig beschlossen und dabei auf die Unmöglichkeit einer sicheren Rückkehr für die Jesid*innen hingewiesen.“ Das BMI müsse dafür sorgen, dass seine untergeordnete Behörde, das BAMF, den irakischen Jesid*innen wieder einen gruppenbezogenen humanitären Schutzstatus zugesteht, sagt sie.
Bis 2017 galt für irakische Jesid*innen ein solcher Schutz. Dieser wurde aber vor Jahren aufgehoben. Die Bundesregierung geht taz-Informationen zufolge davon aus, der IS sei territorial besiegt und es bestünde zumindest kein genozidales Risiko mehr.
Düzen Tekkal die mit ihrer Menschenrechtsorganisation Háwar Help Überlebende unterstützt, hält das für einen Trugschluss. „Die Angreifer waren auch Nachbarn aus den umliegenden Dörfern. Der IS ist eine Ideologie. Und sie ist noch immer da.“ Tekkal mahnt, dass die Anerkennung des Völkermordes ohne asylrechtliche Konsequenzen drohe, zur Symbolpolitik zu verkommen.
Einige Bundesländer haben bereits auf dieses Versäumnis des Bundes reagiert. Nordrhein-Westfalen und Thüringen haben formale, temporäre Abschiebestopps verhängt. Diese sind jedoch nur für drei Monate gültig und können einmalig verlängert werden.
Abschiebestopp hat nur aufschiebende Wirkung
Das Staatsministerium in Bayern wiederum hat der taz mitgeteilt, dass es Abschiebestopps grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Einige andere Länder hingegen scheinen offener zu sein. Nach taz-Informationen schiebe das Land Berlin Jesid*innen aktuell ohnehin nicht nach Irak ab und in Hessen soll ein formaler, landesspezifischer Abschiebestopp diskutiert werden.
Ein Abschiebestopp hätte aber ohnehin nur aufschiebende Wirkung. Menschen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, bekämen nur eine Duldung. Sie hätten in Deutschland also faktisch keine langfristige Perspektive.
Wie wichtig aber eine solche Perspektive wäre, macht Michael Blume (CDU) deutlich. Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, war maßgeblich am Sonderkontingent beteiligt, mit dem Hakeema Taha nach Deutschland kam. Es sei schwer, „bei Menschen Vertrauen in unser politisches System aufzubauen“, wenn ihnen eine sichere Perspektive fehle, sagt er. Man müsse ihnen vermitteln: „Mach hier Schule, eine Ausbildung, bau dir hier was auf!“ Das seien „fünfzig Prozent der Integration.“
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