Aborigines in Australien: Wo Tourismus kulturelle Vielfalt stützt

Für viele Ureinwohner ist der Tourismus zu einem Weg heraus aus Abhängigkeit und Frustration geworden.

Nicht hochklettern, heiliger Ort: Uluru (Ayers‘ Rock) Bild: Michel Meynsbrughen/sxc

„Jetzt gehen wir in den Supermarkt“, sagt Neville Poelina. Seine Gäste wundern sich und stöhnen. Es ist neun Uhr früh, und das Thermometer steht bei 38 Grad. Die schwitzenden Touristen könnten sich nirgendwo weiter weg fühlen vom klimakontrollierten Neonlichtambiente eines modernen Einkaufszentrums als hier, in der von Spinifexgras bedeckten Savanne der Kimberley-Region im Norden Westaustraliens. Kaum ein Gebiet Australiens ist so abgelegen und menschenleer; eine Fläche fast doppelt so groß wie Großbritannien. Nur gerade zwei Straßen durchqueren die Region, der geteerte Great Northern Highway und die Gibb River Road, eine harte Allradstrecke, die schon so manchem Reisenden Reifen und Achse gekostet hat; oder das Leben.

Auf einer staubigen Nebenpiste östlich der Stadt Broome parkt Neville sein Allradfahrzeug. Er will den Gästen erklären, wie „meine Leute 60.000 Jahre lang gelebt haben“. Seine „Leute“, das sind die Aborigines, die australischen Ureinwohner. Der 47-jährige ist Angehöriger des Nyikina-Stammes. Mit einem Stock bricht er aus einem mannhohen, orange-braunen Termitenhügel faustgroße Stücke trockenen Lehms. In einer von den Insekten gebauten Kammer findet er mehrere Handvoll Samen von Gräsern aus der Umgebung. Die Ureinwohner zermahlen sie und backen aus dem Mehl eine Art Fladenbrot. „Seht ihr: wie in einem Supermarkt. Die Termiten schleppen das Essen an und wir bedienen uns“. Sagts, greift zur Eiskiste und setzt sich eine Dose „Mother“ an den Mund, eine koffeingeladene australische Version des Energiedrinks „Red Bull“. „Aah, ich liebe das Zeug“, meint Poelina. Scheinbar problemlos lebt er in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch längst nicht alle australischen Ureinwohner schaffen das so problemlos.

Australien schockierte die Welt mit Berichten über sexuellen Missbrauch und Verwahrlosung von Aboriginal-Kindern. Laut einer Studie finden solche Verbrechen in fast allen von knapp 50 untersuchten nordaustralischen Aboriginal-Gemeinden statt. Als grundlegende Ursache nennen Experten die Erosion der traditionellen Werte der ersten Australier. Dazu komme der weit verbreitete Missbrauch von Drogen, Alkohol und Pornografie. Die Situation werde durch den chronischen Mangel an öffentlichen Diensten wie Polizei und Krankenversorgung verschärft. Neu waren die Erkenntnisse nicht, neu aber war, dass die Regierung reagierte. Sie schickte Soldaten, Polizisten, Krankenschwestern und Ärzte los und führte in 70 Gemeinden des Northern Territory Sondergesetze ein. Alkohol und Pornografie wurden verboten, ganze Gemeinden sind inzwischen unter der Verwaltung weißer Administratoren. Viele nichtindigene Australier sehen einmal mehr ihre Vorurteile bestätigt: Aborigines sind Menschen, die in den 200 Jahren seit der europäischen Invasion Australiens den Weg von der Steinzeit in die Moderne nicht geschafft haben.

„Unsinn“, sagt Neville Poelina, und nippt an seiner Dose. „Wenn man die Beine zusammengebunden hat, kann man nicht rennen.“ Der Konflikt zwischen den Ureinwohnern und den britischer Sträflingen und Siedlern, die im Jahr 1788 im heutigen Sydney landeten, war vorprogrammiert. Dem Versuch der Ausrottung der ersten Australier durch die Weißen folgte der Versuch der zwangsweisen Anpassung an die moderne Gesellschaft. Beide Experimente scheiterten. Die generelle Abneigung, die viele europäischstämmige Australier gegenüber den Ureinwohner zeigen, aber überlebt bis heute. Erst in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts erhielten Aborigines die australische Staatsbürgerschaft. Erst 1992 anerkannte das Gesetz, dass auf dem Kontinent vor der Ankunft der Weißen jemand gelebt hatte. „Jetzt ist die Zeit gekommen, unser Schicksal selber in die Hand zu nehmen“, sagt Paolina.

Dot-Painting, traditionelle Malweise der Ureinwohner Bild: dpa

Er repräsentiert eine Seite des indigenen Australien, von der man nie liest: die des erfolgreichen Geschäftsmannes. Paolina ist Gründer und Besitzer des Aboriginal-Tourismusunternehmens Uptuyu. Gemeinsam mit seiner Frau Jo leitet er ein kleines Camp tief in der Kimberley-Region. Von dort aus führt er Touristen in die Mythologie und den traditionellen Alltag der Ureinwohner ein. „Ich habe mir das alles selber aufgebaut“, meint Poelina, „ohne Hilfe der Regierung“. Er geht mit den Besuchern jagen, angeln und sucht mit ihnen nach „Bushtucker“, in der Natur vorkommende Nahrung, wie die Grassamen im Termitenhügel. Und er lebt gut davon. Sein Allradfahrzeug ist brandneu. Unzählige Ideen für den Ausbau seines Geschäftes schwirren ihm durch den Kopf; ein Trainingszentrum für „meine Leute“ will Poelina auf seinem Land bauen, ein „Vorbild für unsere Kinder sein“.

Neville Poelina ist Teil einer stillen Revolution im indigenen Australien. Tourismus ist für viele Ureinwohner zu einer Chance geworden. Dutzende von touristischen Unternehmen wurden in den letzten Jahren von Aborigines gegründet: von 1-Mann-Betrieben, die Kleingruppentouren zu Felsmalereien in Cape York im Bundesstaat Queensland anbieten, über Aboriginal-Kunstgalerien in den Großstädten bis hin zu „Öko-Zelten“ im Karijini-Nationalpark in Westaustralien.

„16 Prozent der Landmasse Australiens ist von uns Ureinwohnern kontrolliert“, erklärt Aden Ridgeway, Chef des Departements „Indigener Tourismus“ der staatlichen australischen Tourismusbehörde Tourism Australia. Da sei es nur logisch, dass Aborigines im Tourismus eine Rolle spielten. „Damit sind wir einzigartig.“

Aboriginaltourismus entspricht nicht nur einer Nachfrage, er ist auch ein gutes Geschäft. 570 Millionen australische Dollar flossen im letzten Jahr in diese Sparte der australischen Reiseindustrie. Die Zahl der Anbieter wächst: Etwa 130 Aboriginal-Tourismusunternehmen sind registriert. Mit hunderten von Angestellten versorgen sie einen Markt von jährlich 830.000 Besuchern - 16 Prozent aller ausländischen Touristen. Sie wollen während ihres Australienurlaubs eine „indigene Erfahrung“ haben, wie der Kontakt mit der ältesten überlebenden Kultur der Welt in der Reiseindustrieterminologie heißt. Laut einer Studie geben 150.000 Besucher das Interesse an der Kultur der Aborigines sogar als Hauptgrund für ihre Reise nach Down under an. Die Europäer - allen voran Schweizer und Deutsche - sind führend. Ein Drittel aller Besucher haben in Australien eine „indigene Erfahrung“. Wie etwa mit Bill Aiken, dem Mann mit den 36 Frauen.

Aborigines tanzen in Alice Springs Bild: dpa

Die Geike Gorge in der Nähe der Stadt Fitzroy Crossing ist ein Magnet für jeden Touristen, der durch die Kimberley-Region reist. Die Schlucht ist eine Oase mitten in einer trockenen, spröden Landschaft. „Sie war ein Paradies für meine Vorfahren, reich an Nahrung und Wasser“, erklärt Bill Aiken von Drangku Heritage Cruise. Täglich fährt er Gäste auf einem Boot durch die Schlucht, erklärt die Bedeutung von Felsformationen und erzählt aus der „Traumzeit“, der mythischen Schöpfungsgeschichte der Ureinwohner. Und dann kommt die überraschende Behauptung, er habe 36 Frauen. „Leider aber habe ich nur die Verantwortung, nicht den Spaß“, macht er schnell klar. Wie die meisten Ureinwohner, die in der Tourismusindustrie beschäftigt sind, lebt Bill in zwei Welten. Auf der einen Seite ist er ein Geschäftsmann, der mit Handy und Laptop kabellos Buchungen entgegennimmt und Bankkonten abruft. Auf der anderen Seite folgt er strengen sozialen Regeln, die in vielen Ureinwohnergemeinden weiter strikt eingehalten werden. So gelten in Bills Clan auch die Ehefrauen seiner Brüder, Cousins und Onkel als seine Frauen. Er wird für sie verantwortlich, wenn deren „echte“ Ehemänner sterben.

Die Wanderung zwischen zwei Welten, zwischen den strengen Regeln einer Urgesellschaft und den Zwängen und Verlockungen der Moderne ist auch für Ureinwohner, die im Tourismus Fuß fassen wollen, ein Stolperstein auf dem Weg zum Erfolg. „Die Zuverlässigkeit und Qualität von indigenen Touren und Unterkünften ist nach wie vor ein Problem“, sagt der Vorsitzende eines großen europäischen Reiseunternehmens. Das Wort Pünktlichkeit bedeute in der Aboriginalkultur nicht unbedingt dasselbe wie in der westlichen Kultur. So verhalten sich viele ausländischen Reiseveranstalter im Anbieten von Touren der Aborigines noch zurückhaltend. Doch die Situation wird laufend besser. Nicht zuletzt dank einer verstärkten Professionalisierung der Industrie und durch Ausbildung und staatliche Unterstützung. Es werden spezialisierte Kurse und Universitätslehrgänge angeboten. Dabei lernen junge Berufseinsteiger nicht nur, wie man Touristen das Überleben in der trockenen Umwelt der Kimberley-Region beibringt, sondern auch wie man einen trockenen Martini mixt.

Neville Poelina kann direkt über seine Webseite (www.uptuyu.com.au/) kontaktiert werden. Informationen zu anderen Aboriginal-Touren und zu Australien: www.australia.com

Anreise: Broome, der Ausgangsort für Neville Poelinas Touren, hat einen modernen Flughafen, der täglich mehrmals von Qantas Airways (www.qantas.de) angeflogen wird.

Beste Reisezeit: Juni bis August sind die besten Monate für eine Reise in die Kimberley-Region. Achtung: Selbst die Zeltplätze in Broome sind oft ausgebucht. Unbedingt reservieren lassen.

„Tourismus ist nicht die letzte Hoffnung für unsere Kultur, aber eine starke“, sagt Neville Paolina. „Wir müssen unsere Kultur kommerzialisieren.“ Tourismus gebe jungen Aborigines einen Grund, wieder Interesse zu finden an Traditionen und alten Werten. „Denn sie können damit Geld verdienen“, erklärt Paolina. Auf dem Weg vom Termitenhügel zurück zum Fahrzeug erklärt er seinen Gästen die vielen Arten von „Bushtucker“, die er in hier findet und isst: Früchte, Beeren, Kängurus, Schlangen, Echsen, Schildkröten. Nur Fledermäuse, die mag er nicht. „Warum soll ich etwas essen, das den ganzen Tag verkehrt an einem Baum hängt, schläft und dabei noch über sich selber scheißt? Da kauf ich mir lieber einen Hamburger.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.